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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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bereits vorhandenes nationales Moment stützen: es ist das in Sekten zersplit¬
terte, ungeordnete, aber intensive religiöse Gefühl Amerikas, das sich durch
Vermittlung der deutschen Philosophie über seinen eignen Inhalt klar zu werden
strebt. -- Vier Bände der vorliegenden Sammlung enthalten die sämmtlichen
Werke des bedeutendsten unter diesen Dichtern, des Professor Longfellow. Er
ist -1807 geboren, hat in Göttingen seine Studien gemacht und sich mehre
Jahre, 182S--1829, auf der großen Tour aufgehalten. Noch zweimal, -1836
und -1842, macht er einen Besuch in Europa. Er wurde 183S an Tickmors
Stelle Professor an der amerikanischen Universität Cambridge. -- Seine Reiseein¬
drücke hat er in zwei größern Werken niedergelegt: Il^pörion, und Outl-s-mer:
a pilKrimaKö de^onÄ et" "en. Das erste beschäftigt sich mit Deutschland, das
zweite mit Frankreich, Spanien und Italien. Es sind keine einfachen Reise¬
beschreibungen, sondern eine Mischung von romantischer Dichtung, philosophi¬
scher Reflexion und Erzählung. Namentlich die erste Schrift, welche den
massenhaften Eindruck der deutschen Literatur versinnlicht, hat eine ganz origi¬
nelle Form, die uns zuweilen durch ihre barocken Wendungen abstößt, aber
uns doch immer wieder durch geistvolle Einfälle zu versöhnen weiß, ja wir
können sogar viel daraus lernen, denn der Eindruck, den wir in unsrer Ge-
sammtthätigkeit auf einen wohlwollenden und gebildeten Geist machen, gibt
uns manche Aufschlüsse, die wir in der eignen Reflexion nicht.finden würden.
-- Die lyrischen Gedichte, die Longfellow zuerst berühmt gemacht haben, um¬
fassen einen Band. Sie zeichnen sich durch eine contemplative Stimmung,
durch einen großen Reichthum an Ideen und trotz der mannigfachen Anklänge an
frühere Vorbilder auch durch eine nicht geringe Zahl eigenthümlicher Wendungen
aus. Sie erinnern an die Schule der Seen, an Shelley, am meisten aber
an die deutsche Ballade. Obgleich sie sich mit ihren Anschauungen und Be¬
gleichungen nach den entlegensten Gegenden des Abend- und Morgenlandes
hinwenden, kann man doch nicht anstehen, ein nationales Moment in ihnen
zu finden. Selbst ihr Mysticismus erinnert an das vielverzweigte Sektenwesen
Amerikas, wo jede Individualität auf ihre eigne Weise den Herrn sucht. --
Der Roman Kavanagl) (1849) enthält trotz seines geringen Umfangs so
ziemlich alle Elemente des unruhigen und unbeständigen Schaffens von Long¬
fellow. Er ist ungefähr in der losen Weise Sternes geschrieben. Von einer
Ausführung der Geschichte ist gar nicht die Rede; es treten eine Reihe'inter¬
essanter Originale auf, von denen uns einzelne auffallende Züge berichtet
werden. Kavanagl) selbst ist ein Prediger, der im Schoß des Katholicismus
geboren und erzogen, durch Nachdenken und Studien sich von der UnHaltbar¬
keit dieser Lehre überzeugt und zum Protestantismus übergeht. Er verliebt
sich in eine junge Dame seiner Gemeinde, heirathet sie und macht mit ihr
eine dreijährige Tour durch Europa, während die Freundin derselben, die ihn


bereits vorhandenes nationales Moment stützen: es ist das in Sekten zersplit¬
terte, ungeordnete, aber intensive religiöse Gefühl Amerikas, das sich durch
Vermittlung der deutschen Philosophie über seinen eignen Inhalt klar zu werden
strebt. — Vier Bände der vorliegenden Sammlung enthalten die sämmtlichen
Werke des bedeutendsten unter diesen Dichtern, des Professor Longfellow. Er
ist -1807 geboren, hat in Göttingen seine Studien gemacht und sich mehre
Jahre, 182S—1829, auf der großen Tour aufgehalten. Noch zweimal, -1836
und -1842, macht er einen Besuch in Europa. Er wurde 183S an Tickmors
Stelle Professor an der amerikanischen Universität Cambridge. — Seine Reiseein¬
drücke hat er in zwei größern Werken niedergelegt: Il^pörion, und Outl-s-mer:
a pilKrimaKö de^onÄ et« «en. Das erste beschäftigt sich mit Deutschland, das
zweite mit Frankreich, Spanien und Italien. Es sind keine einfachen Reise¬
beschreibungen, sondern eine Mischung von romantischer Dichtung, philosophi¬
scher Reflexion und Erzählung. Namentlich die erste Schrift, welche den
massenhaften Eindruck der deutschen Literatur versinnlicht, hat eine ganz origi¬
nelle Form, die uns zuweilen durch ihre barocken Wendungen abstößt, aber
uns doch immer wieder durch geistvolle Einfälle zu versöhnen weiß, ja wir
können sogar viel daraus lernen, denn der Eindruck, den wir in unsrer Ge-
sammtthätigkeit auf einen wohlwollenden und gebildeten Geist machen, gibt
uns manche Aufschlüsse, die wir in der eignen Reflexion nicht.finden würden.
— Die lyrischen Gedichte, die Longfellow zuerst berühmt gemacht haben, um¬
fassen einen Band. Sie zeichnen sich durch eine contemplative Stimmung,
durch einen großen Reichthum an Ideen und trotz der mannigfachen Anklänge an
frühere Vorbilder auch durch eine nicht geringe Zahl eigenthümlicher Wendungen
aus. Sie erinnern an die Schule der Seen, an Shelley, am meisten aber
an die deutsche Ballade. Obgleich sie sich mit ihren Anschauungen und Be¬
gleichungen nach den entlegensten Gegenden des Abend- und Morgenlandes
hinwenden, kann man doch nicht anstehen, ein nationales Moment in ihnen
zu finden. Selbst ihr Mysticismus erinnert an das vielverzweigte Sektenwesen
Amerikas, wo jede Individualität auf ihre eigne Weise den Herrn sucht. —
Der Roman Kavanagl) (1849) enthält trotz seines geringen Umfangs so
ziemlich alle Elemente des unruhigen und unbeständigen Schaffens von Long¬
fellow. Er ist ungefähr in der losen Weise Sternes geschrieben. Von einer
Ausführung der Geschichte ist gar nicht die Rede; es treten eine Reihe'inter¬
essanter Originale auf, von denen uns einzelne auffallende Züge berichtet
werden. Kavanagl) selbst ist ein Prediger, der im Schoß des Katholicismus
geboren und erzogen, durch Nachdenken und Studien sich von der UnHaltbar¬
keit dieser Lehre überzeugt und zum Protestantismus übergeht. Er verliebt
sich in eine junge Dame seiner Gemeinde, heirathet sie und macht mit ihr
eine dreijährige Tour durch Europa, während die Freundin derselben, die ihn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/296>, abgerufen am 24.07.2024.