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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Meisterwerke bei uns vertreten. Daß von Rossini grade der Tankred und die
Belagerung von Korinth gewählt wurde, hatte besondere Gründe, von denen
weiter unten; lieber hätten wir seine komischen Opern und von seinen ernsten
den Tell gesehen, der übrigens in diesem Augenblick neu einstudirt wird. Bon
Donizettis ernsten Opern sind Lucia und Lucrezia wol die besten; die Favo¬
ritin, ein Werk von sehr unbestimmtem Charakter und geringem Melodienreiz,
ist nur durch Roger auf unsere Bühne gekommen; daß von seinen Opern
heitern Genres nur die Regimcntstochter berücksichtigt wird, bedauern wir.
Mit Bellinis Norma wagt man in Berlin seit dem Austreten der Jenny Lind
schwer einen Versuch; der Romeo hält sich nur durch Johanna Wagner, und die
Nachtwandlerin durch Gaste. Daß endlich Wagners Tannhäuser im ver¬
flossenen Jahr noch nicht zur Aufführung gelangte, hatte bekanntlich darin
seinen Grund, daß Liszt die Leitung des Werkes beanspruchte; da sich dies
jetzt erledigt hat, so ist der Tannhäuser noch in diesem Winter zu erwarten.
Um ein Gesammturtheil über unser Opernrepertoir zu fällen, muß man noch
in Betracht ziehen, daß das genaueste Studium und sorgfältige Ausstattung
auf'die classischen Werke verwandt wird; am schlechtesten kommt die Spielopcr
weg, der überdies noch die großen Räume des Opernhauses verderblich sind ;
fehlt also auch in jedem Jahr dieses oder jenes Werk von classischem Werth,
oder ist die Besetzung nicht immer so, wie der Idealist eS wünschen möchte, so
wird man doch im Ganzen anerkennen müssen, daß unsre Bühne der Richtung
zum Classischen hin treu bleibt, treuer als irgendeine andre in Deutschland.
Als Stützen der Oper sind unsre ersten Sängerinnen zu betrachten. Ent¬
schiedener Liebling des Publicums ist Johanna Wagner. Daß sie ein be¬
deutendes dramatisches Talent besitzt, wird wol nicht bestritten und höchstens
nebenbei bemerkt, sie sei kein schöpferisches Talent, sondern nur eine Nach¬
ahmerin der Schröder-Devrient; als Mängel gelten bekanntlich die theilweise
durch ihre tiefe Stimmlage unvermeidliche Anstrengung in den hohen Tönen
und der effectsüchtige, unweibliche Gebrauch der tiefen Brusttöne; dazu kommt,
daß sie zwar nicht eine sogenannte Naturalistin ist, aber doch sich auch nicht
die strenge kunstgemäße Bildung der Stimme erworben hat. So leiden z. B.
ihre Coloraturen, selbst wenn sie correct herauskommen, an einer gewissen Ge¬
waltsamkeit; sie verbraucht zu vielen Athem in der Bildung des Tons und ist
dadurch oft genöthigt, an falschen Stellen zu athmen, abgesehen davon, daß sie
sich die Höhe so noch mehr erschwert; sie hat manchen Fehler in der Bil¬
dung der Vocale, vorzugsweise wiederum in der hohen Stimmlage; sie führt
das Hinüberziehen der Töne ineinander oft in unschöner, die Tonrcinheit ver¬
unstaltender Weise aus, und dergleichen mehr. Man ist darüber einig, daß sie
den Fidelio und ähnliche Rollen nicht mehr singen dürfe. Nichtsdestoweniger
blieb ihr noch ein sehr stattliches Repertoir: der Orpheus, die Klytämnestra


Meisterwerke bei uns vertreten. Daß von Rossini grade der Tankred und die
Belagerung von Korinth gewählt wurde, hatte besondere Gründe, von denen
weiter unten; lieber hätten wir seine komischen Opern und von seinen ernsten
den Tell gesehen, der übrigens in diesem Augenblick neu einstudirt wird. Bon
Donizettis ernsten Opern sind Lucia und Lucrezia wol die besten; die Favo¬
ritin, ein Werk von sehr unbestimmtem Charakter und geringem Melodienreiz,
ist nur durch Roger auf unsere Bühne gekommen; daß von seinen Opern
heitern Genres nur die Regimcntstochter berücksichtigt wird, bedauern wir.
Mit Bellinis Norma wagt man in Berlin seit dem Austreten der Jenny Lind
schwer einen Versuch; der Romeo hält sich nur durch Johanna Wagner, und die
Nachtwandlerin durch Gaste. Daß endlich Wagners Tannhäuser im ver¬
flossenen Jahr noch nicht zur Aufführung gelangte, hatte bekanntlich darin
seinen Grund, daß Liszt die Leitung des Werkes beanspruchte; da sich dies
jetzt erledigt hat, so ist der Tannhäuser noch in diesem Winter zu erwarten.
Um ein Gesammturtheil über unser Opernrepertoir zu fällen, muß man noch
in Betracht ziehen, daß das genaueste Studium und sorgfältige Ausstattung
auf'die classischen Werke verwandt wird; am schlechtesten kommt die Spielopcr
weg, der überdies noch die großen Räume des Opernhauses verderblich sind ;
fehlt also auch in jedem Jahr dieses oder jenes Werk von classischem Werth,
oder ist die Besetzung nicht immer so, wie der Idealist eS wünschen möchte, so
wird man doch im Ganzen anerkennen müssen, daß unsre Bühne der Richtung
zum Classischen hin treu bleibt, treuer als irgendeine andre in Deutschland.
Als Stützen der Oper sind unsre ersten Sängerinnen zu betrachten. Ent¬
schiedener Liebling des Publicums ist Johanna Wagner. Daß sie ein be¬
deutendes dramatisches Talent besitzt, wird wol nicht bestritten und höchstens
nebenbei bemerkt, sie sei kein schöpferisches Talent, sondern nur eine Nach¬
ahmerin der Schröder-Devrient; als Mängel gelten bekanntlich die theilweise
durch ihre tiefe Stimmlage unvermeidliche Anstrengung in den hohen Tönen
und der effectsüchtige, unweibliche Gebrauch der tiefen Brusttöne; dazu kommt,
daß sie zwar nicht eine sogenannte Naturalistin ist, aber doch sich auch nicht
die strenge kunstgemäße Bildung der Stimme erworben hat. So leiden z. B.
ihre Coloraturen, selbst wenn sie correct herauskommen, an einer gewissen Ge¬
waltsamkeit; sie verbraucht zu vielen Athem in der Bildung des Tons und ist
dadurch oft genöthigt, an falschen Stellen zu athmen, abgesehen davon, daß sie
sich die Höhe so noch mehr erschwert; sie hat manchen Fehler in der Bil¬
dung der Vocale, vorzugsweise wiederum in der hohen Stimmlage; sie führt
das Hinüberziehen der Töne ineinander oft in unschöner, die Tonrcinheit ver¬
unstaltender Weise aus, und dergleichen mehr. Man ist darüber einig, daß sie
den Fidelio und ähnliche Rollen nicht mehr singen dürfe. Nichtsdestoweniger
blieb ihr noch ein sehr stattliches Repertoir: der Orpheus, die Klytämnestra


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/29>, abgerufen am 24.08.2024.