Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vom sechzehnten Jahrhundert zurück aber nimmt die Dämmerung, welche auf
der Vorzeit liegt, in schneller Progession zu, und das Stillleben der Hellenen
und Römer ist für uns durchsichtiger, als das Gemüth eines Hussitenhäupt-
lings oder der Idealismus eines deutschen Edelmanns zur Zeit der sächsischen
Ottone, oder die innern Kämpfe des Kaisers Heinrich IV. Diese UnVerständ¬
lichkeit des alten Lebens ist dem deutschen Historiker das größte Hinderniß. Er hat
die Aufgabe, den sittlichen und gemüthlichen Inhalt jeder Zeit zu beurtheilen nach
Sitte und Gemüth seiner eignen Zeit, die einzelnen Menschen der Vergangenheit
aber nach dem Maßstabe, den ihre eigne Zeit an die Hand gibt; und für beide
Richtungen der Kritik ist eine genaue Kenntniß der Vergangenheit unentbehrlich.

Wie in der Gegenwart, so war schon seit fast fünf Jahrhunderten das
Treiben in den Bädern reich an Auffallenden und Charakteristischen. Unter
den deutschen Bädern, deren Heilquellen nicht nur für die Kranken, auch für
das lustige Volk der Genießenden ein Sammelpunkt geworden, ist Baden bei
Zürich eines der ältesten. Durch das Concilium von Kosemitz wurde es ein
Tummelplatz für vornehme Müßiggänger des Concils, berühmt durch das ganze
damalige Europa. - Zu den Zürichern, welche damals das Hauptcontingent der
Badegäste hergaben, und zu den übrigen Schweizern, welche in den nächsten
Jahrhunderten daran Theil nahmen, gesellten sich Abenteurer aus aller Herren
Landen. Ueber das Badeleben daselbst sind uns ausführliche Berichte aus
verschiedenen Jahrhunderten erhalten. Sie sind in schätzenswerthen Auszügen
zusammengestellt in: Die Badenfahrt/ von David Heß. Zürich, Orell, Füßli
<d Comp. 18-18. Einiges davon wird im Folgenden in getreuer Uebertragung
mitgetheilt.

Badeleben im Jahre 14-17. Der Florentiner Franz Poggio (-1380
-- -1439), ein berühmter Gelehrter, bekleidete als Secretär den Papst Johann
XXIII. nach Constanz, besuchte von dort das Bad Baden und beschrieb seine
Reiseeindrücke in einem zierlichen lateinischen Brief an seinen Freund, ,den ge¬
lehrten Nicolo Nicoli, wobei wohl zu bemerken ist, daß Poggio damals noch
ein Geistlicher war. Um ganz zu -verstehen, wie sehr die Reformation der
Kirche, welche hundert Jahr später eintrat, durch das empörte sittliche Gefühl
der Völker getragen wurde, möge man auf die kalte, vornehme Unsittlichkeit im
Tone des folgenden Briefes wohl achten. Poggio war ein großer Gelehrter
und ein kluger Staatsmann, er gehörte zu den feinsten Köpfen des gebildeten
Italiens. Aber er war kein Christ mehr, mit der antiken Bildung hatte er auch
das Gemüth eines vornehmen Römers aus der Zeit des Tiber angenommen, und
es macht einen grauenhaften Eindruck, zu hören, wie human und gemüthlich der
Secretär des Papstes, der Priester, der Gelehrte, damals die Auswüchse seiner
Zeitbildung ansehen konnte. Und dabei sei noch erwähnt, daß die Beschrei¬
bungen seines Briefes in d. Bl. an mehren Stellen abgekürzt werden mußten.


Vom sechzehnten Jahrhundert zurück aber nimmt die Dämmerung, welche auf
der Vorzeit liegt, in schneller Progession zu, und das Stillleben der Hellenen
und Römer ist für uns durchsichtiger, als das Gemüth eines Hussitenhäupt-
lings oder der Idealismus eines deutschen Edelmanns zur Zeit der sächsischen
Ottone, oder die innern Kämpfe des Kaisers Heinrich IV. Diese UnVerständ¬
lichkeit des alten Lebens ist dem deutschen Historiker das größte Hinderniß. Er hat
die Aufgabe, den sittlichen und gemüthlichen Inhalt jeder Zeit zu beurtheilen nach
Sitte und Gemüth seiner eignen Zeit, die einzelnen Menschen der Vergangenheit
aber nach dem Maßstabe, den ihre eigne Zeit an die Hand gibt; und für beide
Richtungen der Kritik ist eine genaue Kenntniß der Vergangenheit unentbehrlich.

Wie in der Gegenwart, so war schon seit fast fünf Jahrhunderten das
Treiben in den Bädern reich an Auffallenden und Charakteristischen. Unter
den deutschen Bädern, deren Heilquellen nicht nur für die Kranken, auch für
das lustige Volk der Genießenden ein Sammelpunkt geworden, ist Baden bei
Zürich eines der ältesten. Durch das Concilium von Kosemitz wurde es ein
Tummelplatz für vornehme Müßiggänger des Concils, berühmt durch das ganze
damalige Europa. - Zu den Zürichern, welche damals das Hauptcontingent der
Badegäste hergaben, und zu den übrigen Schweizern, welche in den nächsten
Jahrhunderten daran Theil nahmen, gesellten sich Abenteurer aus aller Herren
Landen. Ueber das Badeleben daselbst sind uns ausführliche Berichte aus
verschiedenen Jahrhunderten erhalten. Sie sind in schätzenswerthen Auszügen
zusammengestellt in: Die Badenfahrt/ von David Heß. Zürich, Orell, Füßli
<d Comp. 18-18. Einiges davon wird im Folgenden in getreuer Uebertragung
mitgetheilt.

Badeleben im Jahre 14-17. Der Florentiner Franz Poggio (-1380
— -1439), ein berühmter Gelehrter, bekleidete als Secretär den Papst Johann
XXIII. nach Constanz, besuchte von dort das Bad Baden und beschrieb seine
Reiseeindrücke in einem zierlichen lateinischen Brief an seinen Freund, ,den ge¬
lehrten Nicolo Nicoli, wobei wohl zu bemerken ist, daß Poggio damals noch
ein Geistlicher war. Um ganz zu -verstehen, wie sehr die Reformation der
Kirche, welche hundert Jahr später eintrat, durch das empörte sittliche Gefühl
der Völker getragen wurde, möge man auf die kalte, vornehme Unsittlichkeit im
Tone des folgenden Briefes wohl achten. Poggio war ein großer Gelehrter
und ein kluger Staatsmann, er gehörte zu den feinsten Köpfen des gebildeten
Italiens. Aber er war kein Christ mehr, mit der antiken Bildung hatte er auch
das Gemüth eines vornehmen Römers aus der Zeit des Tiber angenommen, und
es macht einen grauenhaften Eindruck, zu hören, wie human und gemüthlich der
Secretär des Papstes, der Priester, der Gelehrte, damals die Auswüchse seiner
Zeitbildung ansehen konnte. Und dabei sei noch erwähnt, daß die Beschrei¬
bungen seines Briefes in d. Bl. an mehren Stellen abgekürzt werden mußten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100664"/>
            <p xml:id="ID_585" prev="#ID_584"> Vom sechzehnten Jahrhundert zurück aber nimmt die Dämmerung, welche auf<lb/>
der Vorzeit liegt, in schneller Progession zu, und das Stillleben der Hellenen<lb/>
und Römer ist für uns durchsichtiger, als das Gemüth eines Hussitenhäupt-<lb/>
lings oder der Idealismus eines deutschen Edelmanns zur Zeit der sächsischen<lb/>
Ottone, oder die innern Kämpfe des Kaisers Heinrich IV. Diese UnVerständ¬<lb/>
lichkeit des alten Lebens ist dem deutschen Historiker das größte Hinderniß. Er hat<lb/>
die Aufgabe, den sittlichen und gemüthlichen Inhalt jeder Zeit zu beurtheilen nach<lb/>
Sitte und Gemüth seiner eignen Zeit, die einzelnen Menschen der Vergangenheit<lb/>
aber nach dem Maßstabe, den ihre eigne Zeit an die Hand gibt; und für beide<lb/>
Richtungen der Kritik ist eine genaue Kenntniß der Vergangenheit unentbehrlich.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_586"> Wie in der Gegenwart, so war schon seit fast fünf Jahrhunderten das<lb/>
Treiben in den Bädern reich an Auffallenden und Charakteristischen. Unter<lb/>
den deutschen Bädern, deren Heilquellen nicht nur für die Kranken, auch für<lb/>
das lustige Volk der Genießenden ein Sammelpunkt geworden, ist Baden bei<lb/>
Zürich eines der ältesten. Durch das Concilium von Kosemitz wurde es ein<lb/>
Tummelplatz für vornehme Müßiggänger des Concils, berühmt durch das ganze<lb/>
damalige Europa. - Zu den Zürichern, welche damals das Hauptcontingent der<lb/>
Badegäste hergaben, und zu den übrigen Schweizern, welche in den nächsten<lb/>
Jahrhunderten daran Theil nahmen, gesellten sich Abenteurer aus aller Herren<lb/>
Landen. Ueber das Badeleben daselbst sind uns ausführliche Berichte aus<lb/>
verschiedenen Jahrhunderten erhalten. Sie sind in schätzenswerthen Auszügen<lb/>
zusammengestellt in: Die Badenfahrt/ von David Heß. Zürich, Orell, Füßli<lb/>
&lt;d Comp. 18-18. Einiges davon wird im Folgenden in getreuer Uebertragung<lb/>
mitgetheilt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_587"> Badeleben im Jahre 14-17. Der Florentiner Franz Poggio (-1380<lb/>
&#x2014; -1439), ein berühmter Gelehrter, bekleidete als Secretär den Papst Johann<lb/>
XXIII. nach Constanz, besuchte von dort das Bad Baden und beschrieb seine<lb/>
Reiseeindrücke in einem zierlichen lateinischen Brief an seinen Freund, ,den ge¬<lb/>
lehrten Nicolo Nicoli, wobei wohl zu bemerken ist, daß Poggio damals noch<lb/>
ein Geistlicher war. Um ganz zu -verstehen, wie sehr die Reformation der<lb/>
Kirche, welche hundert Jahr später eintrat, durch das empörte sittliche Gefühl<lb/>
der Völker getragen wurde, möge man auf die kalte, vornehme Unsittlichkeit im<lb/>
Tone des folgenden Briefes wohl achten. Poggio war ein großer Gelehrter<lb/>
und ein kluger Staatsmann, er gehörte zu den feinsten Köpfen des gebildeten<lb/>
Italiens. Aber er war kein Christ mehr, mit der antiken Bildung hatte er auch<lb/>
das Gemüth eines vornehmen Römers aus der Zeit des Tiber angenommen, und<lb/>
es macht einen grauenhaften Eindruck, zu hören, wie human und gemüthlich der<lb/>
Secretär des Papstes, der Priester, der Gelehrte, damals die Auswüchse seiner<lb/>
Zeitbildung ansehen konnte. Und dabei sei noch erwähnt, daß die Beschrei¬<lb/>
bungen seines Briefes in d. Bl. an mehren Stellen abgekürzt werden mußten.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] Vom sechzehnten Jahrhundert zurück aber nimmt die Dämmerung, welche auf der Vorzeit liegt, in schneller Progession zu, und das Stillleben der Hellenen und Römer ist für uns durchsichtiger, als das Gemüth eines Hussitenhäupt- lings oder der Idealismus eines deutschen Edelmanns zur Zeit der sächsischen Ottone, oder die innern Kämpfe des Kaisers Heinrich IV. Diese UnVerständ¬ lichkeit des alten Lebens ist dem deutschen Historiker das größte Hinderniß. Er hat die Aufgabe, den sittlichen und gemüthlichen Inhalt jeder Zeit zu beurtheilen nach Sitte und Gemüth seiner eignen Zeit, die einzelnen Menschen der Vergangenheit aber nach dem Maßstabe, den ihre eigne Zeit an die Hand gibt; und für beide Richtungen der Kritik ist eine genaue Kenntniß der Vergangenheit unentbehrlich. Wie in der Gegenwart, so war schon seit fast fünf Jahrhunderten das Treiben in den Bädern reich an Auffallenden und Charakteristischen. Unter den deutschen Bädern, deren Heilquellen nicht nur für die Kranken, auch für das lustige Volk der Genießenden ein Sammelpunkt geworden, ist Baden bei Zürich eines der ältesten. Durch das Concilium von Kosemitz wurde es ein Tummelplatz für vornehme Müßiggänger des Concils, berühmt durch das ganze damalige Europa. - Zu den Zürichern, welche damals das Hauptcontingent der Badegäste hergaben, und zu den übrigen Schweizern, welche in den nächsten Jahrhunderten daran Theil nahmen, gesellten sich Abenteurer aus aller Herren Landen. Ueber das Badeleben daselbst sind uns ausführliche Berichte aus verschiedenen Jahrhunderten erhalten. Sie sind in schätzenswerthen Auszügen zusammengestellt in: Die Badenfahrt/ von David Heß. Zürich, Orell, Füßli <d Comp. 18-18. Einiges davon wird im Folgenden in getreuer Uebertragung mitgetheilt. Badeleben im Jahre 14-17. Der Florentiner Franz Poggio (-1380 — -1439), ein berühmter Gelehrter, bekleidete als Secretär den Papst Johann XXIII. nach Constanz, besuchte von dort das Bad Baden und beschrieb seine Reiseeindrücke in einem zierlichen lateinischen Brief an seinen Freund, ,den ge¬ lehrten Nicolo Nicoli, wobei wohl zu bemerken ist, daß Poggio damals noch ein Geistlicher war. Um ganz zu -verstehen, wie sehr die Reformation der Kirche, welche hundert Jahr später eintrat, durch das empörte sittliche Gefühl der Völker getragen wurde, möge man auf die kalte, vornehme Unsittlichkeit im Tone des folgenden Briefes wohl achten. Poggio war ein großer Gelehrter und ein kluger Staatsmann, er gehörte zu den feinsten Köpfen des gebildeten Italiens. Aber er war kein Christ mehr, mit der antiken Bildung hatte er auch das Gemüth eines vornehmen Römers aus der Zeit des Tiber angenommen, und es macht einen grauenhaften Eindruck, zu hören, wie human und gemüthlich der Secretär des Papstes, der Priester, der Gelehrte, damals die Auswüchse seiner Zeitbildung ansehen konnte. Und dabei sei noch erwähnt, daß die Beschrei¬ bungen seines Briefes in d. Bl. an mehren Stellen abgekürzt werden mußten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/210>, abgerufen am 25.08.2024.