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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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alter Zeit, der Sage nach von Kopernicus angelegt, ist die Wasserleitung
der Stadt.

Die große Strafanstalt, verbunden mit einer Erziehungsanstalt für jugend¬
liche Verbrecher, sowie die Festung oben kann gewissermaßen für ein in sich
abgeschlossener Stadttheil betrachtet werden. Letztere ist durch Friedrich den
Großen angelegt, hat zwei Ausgänge, den einen nach der Stadt, den andern
nach Marienwerder hin. Ein tiefer Brunnen innerhalb der Festung gewährt
der Besatzung das nöthige Wasser. Gegen Napoleon hielt sie unter ihrem
wackern Vertheidiger, dem ehrenwerthen Courbiere, die Belagerung bis zum
tilsirer Frieden aus. In Hemdärmeln umhergehend konnte er gleichwol, als
es nach französischer Versicherung keinen König von Preußen mehr gab, mit
Fug und Recht "König von Graudenz" sich nennen. Man hat sein An¬
denken geehrt durch ein Monument auf den Wällen, die er so tapfer ver¬
theidigte. Von der Höhe der Festung genießt man eine sehr weite Umschau
über das Weichselthal. Dasselbe gilt vom Schloß berge, auf den eine Pro¬
menade hinausführt. Der hohe runde Wartthurm oben ist der einzige Ueber¬
rest eines alten Schlosses, welches erst auf Veranlassung des Ministers von
Schroeter, der hier wie auf der Marienburg den Namen des preußischen Hero¬
strat verdient, mühsam abgebrochen wurde; doch lohnte die beabsichtigte Spar¬
samkeit schlecht, denn die abgebrochenen Ziegelsteine hielten zu fest aneinander
und gaben 'durchaus kein erwünschtes Material zu neuen Bauten. Die freund¬
lichen Anlagen aus der Kuppe des Berges scheinen den übriggebliebenen Riesen
von Thurm in seiner Einsamkeit trösten zu wollen. Zu Füßen des Berges
gewahrt man die Lebenspulsader der Stadt, eine Menge hoher Speicher, deren
Schüttböden hoch mit Getreide beladen sind. Der Getreidehandel ist Graudenz'
HauptnahrungSzweig. Dazu paßte der Anblick der schwimmenden polnischen
Colonien, die aus langgestreckten Kähnen voll Weizen oder auf breiten Holz¬
stößen, oft noch mit Flachs oder Matten beladen, dicht aneinandergedrängt,
die Stromfläche der Hafenbucht auf weite Strecken b/in bedecken. Jeder Kahn,
jede Gruppe von Flößen, steht unter dem Commando eines polnischen Juden
und nimmt dieser in seinem schwarzseidenen langen Kaftan und breitkrämpigen
Hute prangende Flottcnadmiral sich komisch genug aus. Man könnte stunden¬
lang dem Treiben dieser gutmüthigen Halbwilden zuschauen, wenn sie voll Lust
und Lachen aus einer großen hölzernen Schale gemeinschaftlich ihre Brot- oder
Wassersuppe, ihre Erbsen mit Speck oder gar ihr Leibgericht, sauern Kapusta
(Sauerkohl, kaum mit Salz gewürzt) lecker verzehren, wobei der schwere Holz¬
löffel wie ein Pokal die Runde macht von Mund zu Mund. Und wie wenig
der Mensch bedarf, um zufrieden zu sein, zeigt schon die Robinsonkleidung dieser
Sarmaten, die nur ein Hemd aus Sackleinwand, eine linnene Hose, Bast¬
schuhe und einen selbftgeflochtenen breiten Strohhut tragen und deren größter


alter Zeit, der Sage nach von Kopernicus angelegt, ist die Wasserleitung
der Stadt.

Die große Strafanstalt, verbunden mit einer Erziehungsanstalt für jugend¬
liche Verbrecher, sowie die Festung oben kann gewissermaßen für ein in sich
abgeschlossener Stadttheil betrachtet werden. Letztere ist durch Friedrich den
Großen angelegt, hat zwei Ausgänge, den einen nach der Stadt, den andern
nach Marienwerder hin. Ein tiefer Brunnen innerhalb der Festung gewährt
der Besatzung das nöthige Wasser. Gegen Napoleon hielt sie unter ihrem
wackern Vertheidiger, dem ehrenwerthen Courbiere, die Belagerung bis zum
tilsirer Frieden aus. In Hemdärmeln umhergehend konnte er gleichwol, als
es nach französischer Versicherung keinen König von Preußen mehr gab, mit
Fug und Recht „König von Graudenz" sich nennen. Man hat sein An¬
denken geehrt durch ein Monument auf den Wällen, die er so tapfer ver¬
theidigte. Von der Höhe der Festung genießt man eine sehr weite Umschau
über das Weichselthal. Dasselbe gilt vom Schloß berge, auf den eine Pro¬
menade hinausführt. Der hohe runde Wartthurm oben ist der einzige Ueber¬
rest eines alten Schlosses, welches erst auf Veranlassung des Ministers von
Schroeter, der hier wie auf der Marienburg den Namen des preußischen Hero¬
strat verdient, mühsam abgebrochen wurde; doch lohnte die beabsichtigte Spar¬
samkeit schlecht, denn die abgebrochenen Ziegelsteine hielten zu fest aneinander
und gaben 'durchaus kein erwünschtes Material zu neuen Bauten. Die freund¬
lichen Anlagen aus der Kuppe des Berges scheinen den übriggebliebenen Riesen
von Thurm in seiner Einsamkeit trösten zu wollen. Zu Füßen des Berges
gewahrt man die Lebenspulsader der Stadt, eine Menge hoher Speicher, deren
Schüttböden hoch mit Getreide beladen sind. Der Getreidehandel ist Graudenz'
HauptnahrungSzweig. Dazu paßte der Anblick der schwimmenden polnischen
Colonien, die aus langgestreckten Kähnen voll Weizen oder auf breiten Holz¬
stößen, oft noch mit Flachs oder Matten beladen, dicht aneinandergedrängt,
die Stromfläche der Hafenbucht auf weite Strecken b/in bedecken. Jeder Kahn,
jede Gruppe von Flößen, steht unter dem Commando eines polnischen Juden
und nimmt dieser in seinem schwarzseidenen langen Kaftan und breitkrämpigen
Hute prangende Flottcnadmiral sich komisch genug aus. Man könnte stunden¬
lang dem Treiben dieser gutmüthigen Halbwilden zuschauen, wenn sie voll Lust
und Lachen aus einer großen hölzernen Schale gemeinschaftlich ihre Brot- oder
Wassersuppe, ihre Erbsen mit Speck oder gar ihr Leibgericht, sauern Kapusta
(Sauerkohl, kaum mit Salz gewürzt) lecker verzehren, wobei der schwere Holz¬
löffel wie ein Pokal die Runde macht von Mund zu Mund. Und wie wenig
der Mensch bedarf, um zufrieden zu sein, zeigt schon die Robinsonkleidung dieser
Sarmaten, die nur ein Hemd aus Sackleinwand, eine linnene Hose, Bast¬
schuhe und einen selbftgeflochtenen breiten Strohhut tragen und deren größter


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[0191] alter Zeit, der Sage nach von Kopernicus angelegt, ist die Wasserleitung der Stadt. Die große Strafanstalt, verbunden mit einer Erziehungsanstalt für jugend¬ liche Verbrecher, sowie die Festung oben kann gewissermaßen für ein in sich abgeschlossener Stadttheil betrachtet werden. Letztere ist durch Friedrich den Großen angelegt, hat zwei Ausgänge, den einen nach der Stadt, den andern nach Marienwerder hin. Ein tiefer Brunnen innerhalb der Festung gewährt der Besatzung das nöthige Wasser. Gegen Napoleon hielt sie unter ihrem wackern Vertheidiger, dem ehrenwerthen Courbiere, die Belagerung bis zum tilsirer Frieden aus. In Hemdärmeln umhergehend konnte er gleichwol, als es nach französischer Versicherung keinen König von Preußen mehr gab, mit Fug und Recht „König von Graudenz" sich nennen. Man hat sein An¬ denken geehrt durch ein Monument auf den Wällen, die er so tapfer ver¬ theidigte. Von der Höhe der Festung genießt man eine sehr weite Umschau über das Weichselthal. Dasselbe gilt vom Schloß berge, auf den eine Pro¬ menade hinausführt. Der hohe runde Wartthurm oben ist der einzige Ueber¬ rest eines alten Schlosses, welches erst auf Veranlassung des Ministers von Schroeter, der hier wie auf der Marienburg den Namen des preußischen Hero¬ strat verdient, mühsam abgebrochen wurde; doch lohnte die beabsichtigte Spar¬ samkeit schlecht, denn die abgebrochenen Ziegelsteine hielten zu fest aneinander und gaben 'durchaus kein erwünschtes Material zu neuen Bauten. Die freund¬ lichen Anlagen aus der Kuppe des Berges scheinen den übriggebliebenen Riesen von Thurm in seiner Einsamkeit trösten zu wollen. Zu Füßen des Berges gewahrt man die Lebenspulsader der Stadt, eine Menge hoher Speicher, deren Schüttböden hoch mit Getreide beladen sind. Der Getreidehandel ist Graudenz' HauptnahrungSzweig. Dazu paßte der Anblick der schwimmenden polnischen Colonien, die aus langgestreckten Kähnen voll Weizen oder auf breiten Holz¬ stößen, oft noch mit Flachs oder Matten beladen, dicht aneinandergedrängt, die Stromfläche der Hafenbucht auf weite Strecken b/in bedecken. Jeder Kahn, jede Gruppe von Flößen, steht unter dem Commando eines polnischen Juden und nimmt dieser in seinem schwarzseidenen langen Kaftan und breitkrämpigen Hute prangende Flottcnadmiral sich komisch genug aus. Man könnte stunden¬ lang dem Treiben dieser gutmüthigen Halbwilden zuschauen, wenn sie voll Lust und Lachen aus einer großen hölzernen Schale gemeinschaftlich ihre Brot- oder Wassersuppe, ihre Erbsen mit Speck oder gar ihr Leibgericht, sauern Kapusta (Sauerkohl, kaum mit Salz gewürzt) lecker verzehren, wobei der schwere Holz¬ löffel wie ein Pokal die Runde macht von Mund zu Mund. Und wie wenig der Mensch bedarf, um zufrieden zu sein, zeigt schon die Robinsonkleidung dieser Sarmaten, die nur ein Hemd aus Sackleinwand, eine linnene Hose, Bast¬ schuhe und einen selbftgeflochtenen breiten Strohhut tragen und deren größter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/191>, abgerufen am 25.08.2024.