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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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schreckhaft aufgeregt, oder man lernt es, sich und den Thatsachen abzufinden, gelten
zu lassen, was eben vorkommt, und heute als Factum anzunehmen oder wol gar
zu loben, was mau gestern als die Quelle des Verderbens bezeichnet hatte. Diese
Stimmung ist nirgends so verbreitet als in Deutschland, wo es überhaupt so wenig
ausgemachte Principien gibt, die der Discussion entzogen wären. Darum hat bei
uns auch die Diplomatie und die Demagogie ein so leichtes Spiel, selbst die Vor¬
stellungen von den Thatsachen schnell in Verwirrung zu setzen. Um wieviel glück¬
licher ist darin das englische Volk gestellt! wenn wir uns an die Urtheile der
englischen Presse über das Ministerium erinnern, die im vorigen Jahr noch nicht
von den lauten und schlagenden Zeugnissen unterstützt wurden, wie es gegenwärtig
der Fall ist, so werden wir auch nach den jetzt erlangten Aufklärungen, einzelne
unvermeidliche Uebertreibungen und Parteigefichtspuukte abgerechnet, diese Urtheile
im wesentlichen bestätigt, finden, weil der Engländer einen sichren Blick sür die
praktische Seite des Lebens hat und daher das Wesentliche vom Unwesentlichen zu
unterscheiden weiß. Bei uns sieht man dagegen die Thatsachen fast immer durch
ein trübes Medium. ' Wir wollen nur an einen Umstand erinnern, der gegenwärtig
eine bedeutende Rolle spielt, an das Verhältniß zwischen Oestreich und Preußen in
Beziehung aus die orientalische Frage. Nach der Zurückweisung des Wiener An¬
trags von Seiten Preußens schien die Sachlage ziemlich offen dargelegt zu sei",
und doch verbreitete sich sehr bald die Meinung, daß Oestreich im Stillen viel
russischer gesinnt sei als Preußen, und daß man jenes Anerbieten des Wiener Ca-
binets nur als ein scheinbares aufzufassen habe. Nach den neuesten Erklärungen
des englischen Ministeriums im Parlament wird man diese wohlmeinende Ansicht
wol nicht länger festhalten können. Ebenso wie früher der französische Kaiser hat
es jetzt die englische Regierung ausgesprochen, daß Oestreichs Verhalten in dieser
Sache ein loyales, festes und einsichtsvolles sei und daß nur Preußen durch seinen
Widerstand das Einvernehmen Deutschlands mit den Westmächtcn hindere. Wir
geben zu, daß für das natürliche Gefühl in dieser Erklärung etwas Unglaubliches
ligt, daß es schwer begreiflich ist, wie eine Negierung, die der russische Kaiser in
seiner Verhandlung mit dem englischen Ministerium als eine solche bezeichnet hat,
auf deren Willen es ganz und gar nicht ankäme, die also politisch null sei,
sich jetzt dazu hergeben kann, für denselben russischen Kaiser die Kastanien aus dem
Feuer zu holen. Allein daß mau sich in Deutschland daran gewöhnen muß, das
Unmögliche als wirklich und wahrscheinlich aufzufassen, das ist eben das Ergebniß
einer ruhigen und besonnenen Auffassung, einer einfachen und ungetrübten An-
schauung der Dinge, wenn wir auch gern zugeben wollen, daß ein solches Ergebniß
weder erfreulich uoch erhebend ist. Aber auch der Muth, das Böse zu tragen oder
ihm zu begegnen wird nnr durch eine gesunde und richtige Bildung des Urtheils
vermittelt, und zu diesem Zwecke glauben wir das vorliegende Buch unsern Lesern
empfehlen zu können. --




Herausgegeben von Gustav Frcyrag und Julia" Schmidt.
Als verantwort!. Redacteur legitimirt: F. W. Grnnow.-- Verlag von F. L. Herbig
in Leipzig.
Druck von (5. E. Mbert,i" Leipzig.

schreckhaft aufgeregt, oder man lernt es, sich und den Thatsachen abzufinden, gelten
zu lassen, was eben vorkommt, und heute als Factum anzunehmen oder wol gar
zu loben, was mau gestern als die Quelle des Verderbens bezeichnet hatte. Diese
Stimmung ist nirgends so verbreitet als in Deutschland, wo es überhaupt so wenig
ausgemachte Principien gibt, die der Discussion entzogen wären. Darum hat bei
uns auch die Diplomatie und die Demagogie ein so leichtes Spiel, selbst die Vor¬
stellungen von den Thatsachen schnell in Verwirrung zu setzen. Um wieviel glück¬
licher ist darin das englische Volk gestellt! wenn wir uns an die Urtheile der
englischen Presse über das Ministerium erinnern, die im vorigen Jahr noch nicht
von den lauten und schlagenden Zeugnissen unterstützt wurden, wie es gegenwärtig
der Fall ist, so werden wir auch nach den jetzt erlangten Aufklärungen, einzelne
unvermeidliche Uebertreibungen und Parteigefichtspuukte abgerechnet, diese Urtheile
im wesentlichen bestätigt, finden, weil der Engländer einen sichren Blick sür die
praktische Seite des Lebens hat und daher das Wesentliche vom Unwesentlichen zu
unterscheiden weiß. Bei uns sieht man dagegen die Thatsachen fast immer durch
ein trübes Medium. ' Wir wollen nur an einen Umstand erinnern, der gegenwärtig
eine bedeutende Rolle spielt, an das Verhältniß zwischen Oestreich und Preußen in
Beziehung aus die orientalische Frage. Nach der Zurückweisung des Wiener An¬
trags von Seiten Preußens schien die Sachlage ziemlich offen dargelegt zu sei»,
und doch verbreitete sich sehr bald die Meinung, daß Oestreich im Stillen viel
russischer gesinnt sei als Preußen, und daß man jenes Anerbieten des Wiener Ca-
binets nur als ein scheinbares aufzufassen habe. Nach den neuesten Erklärungen
des englischen Ministeriums im Parlament wird man diese wohlmeinende Ansicht
wol nicht länger festhalten können. Ebenso wie früher der französische Kaiser hat
es jetzt die englische Regierung ausgesprochen, daß Oestreichs Verhalten in dieser
Sache ein loyales, festes und einsichtsvolles sei und daß nur Preußen durch seinen
Widerstand das Einvernehmen Deutschlands mit den Westmächtcn hindere. Wir
geben zu, daß für das natürliche Gefühl in dieser Erklärung etwas Unglaubliches
ligt, daß es schwer begreiflich ist, wie eine Negierung, die der russische Kaiser in
seiner Verhandlung mit dem englischen Ministerium als eine solche bezeichnet hat,
auf deren Willen es ganz und gar nicht ankäme, die also politisch null sei,
sich jetzt dazu hergeben kann, für denselben russischen Kaiser die Kastanien aus dem
Feuer zu holen. Allein daß mau sich in Deutschland daran gewöhnen muß, das
Unmögliche als wirklich und wahrscheinlich aufzufassen, das ist eben das Ergebniß
einer ruhigen und besonnenen Auffassung, einer einfachen und ungetrübten An-
schauung der Dinge, wenn wir auch gern zugeben wollen, daß ein solches Ergebniß
weder erfreulich uoch erhebend ist. Aber auch der Muth, das Böse zu tragen oder
ihm zu begegnen wird nnr durch eine gesunde und richtige Bildung des Urtheils
vermittelt, und zu diesem Zwecke glauben wir das vorliegende Buch unsern Lesern
empfehlen zu können. —




Herausgegeben von Gustav Frcyrag und Julia« Schmidt.
Als verantwort!. Redacteur legitimirt: F. W. Grnnow.— Verlag von F. L. Herbig
in Leipzig.
Druck von (5. E. Mbert,i» Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/87>, abgerufen am 22.12.2024.