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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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sammle Publicum würde das auch sehr lebhaft empfinden, wenn ihm nicht die
ganze Begebenheit schon so geläufig wäre, daß es kein Arg mehr daran nimmt.

Worauf übrigens die Sage sich ursprünglich gründet, hat Simrock (in den
"Quellen des Shakspeare") vortrefflich nachgewiesen. "Die Sage stellt den we¬
sentlichen Inhalt der ganzen römischen Rechtsgeschichte, den Sieg der ac^uitas
über das M8 strielurn dar: das Ms slrwlum wird zu Gunsten der -^uitas an
ein sah ste'ieüssimum, eine exeeptio gebunden, und hierdurch seinem Inhalt nach
vernichtet, obwol der Form nach aufrecht erhalten. Die Zwölftafelgesetze gestat¬
teten den Gläubigern, zunächst blos wenn es ihrer mehre sind, die Zertheilung
des zahlungsuufähigen Schuldners nach dem, Unzialvcrhältnisse der Schuld. Die
Sage nun macht die exo<zMo des Blutvergießens und des Mehr- oder Minder-
hauens." -- Das alles spielt also in einer heidnischen Zeit und stellt eine all-
mälige Entwicklung der Rechtsbegriffe dar, wahrend in Shakspeares Drama die
christliche Zeit, welche den Todtschlag principiell nicht gelten läßt, welche nie zu¬
gibt, daß der Mensch zu einer Sache herabgesetzt werde, der Fabel widerspricht.
Der Zauber der Shakspeareschen Darstellung läßt uns diesen Fehler übersehen,
aber ein Fehler bleibt es.

Ein zweiter Umstand, den Herr Hehler zu rechtfertigen sucht, ist die Ge¬
schichte mit den drei Kästchen. Für unser gewöhnliches Bewußtsein ist es eine
Absurdität von Seiten des Vaters Porzias, das Schicksal seiner Tochter einer
Lotterie preiszugeben, und sowol durch diese Voraussetzung, als anch durch die
Form, in der die Freier eingeführt werden, kommt in diesen Theil der Handlung
etwas Hvlzschnittartiges, das zu dem reich und wahr ausgeführten Leben des an¬
dern Theils nicht recht stimmen will. Auch hier scheint uns Shakespeare seinen
Stoff uicht völlig überwunden zu haben. Es ist dies übrigens ein Dilemma,
dem fast alle dramatische Komposition unterliegt. Erfindet der Dichter sich seinen
Stoff, so bringt er ihm nicht jene Frische des Gemüths und der Phantasie ent¬
gegen, die für eine freie Bearbeitung nothwendig ist; läßt er ihn sich aber über¬
liefern, so wird er es schwer vermeiden können, daß einzelne Momente zurück¬
bleiben, die wol zu den älteren Voraussetzungen, aber nicht zu der Gesammt-
anschauuug deS neueren Dichters passen.

Dies wären die beiden Hauptpunkte, die wir gegen die Ansicht des Ver¬
fassers aufzustellen hätten. Anderes ist minder wesentlich. So geht er z. B. in
seiner Polemik gegen Ulrici zu weit, wenn er in der Flucht Jessicas und in dem
Diebstahl, den sie an den Schätzen ihres Vaters begeht, eine sittliche Noth¬
wendigkeit sieht und jeden Nechtsco,"flick wegleugnet. Ueber das Capitel der
Rechtscvuflicte scheint er überhaupt im Unklaren zu sein. Denn wenn er Ulrici
fortwährend fragt, was er denn an der Stelle der betreffenden Person gethan
haben würde, so heißt das die Schwierigkeit umgehe". Wenn eine Tochter ihrem
Vater entläuft, so ist das, wenn wir es ernst auffassen, immer ein Bruch der


sammle Publicum würde das auch sehr lebhaft empfinden, wenn ihm nicht die
ganze Begebenheit schon so geläufig wäre, daß es kein Arg mehr daran nimmt.

Worauf übrigens die Sage sich ursprünglich gründet, hat Simrock (in den
„Quellen des Shakspeare") vortrefflich nachgewiesen. „Die Sage stellt den we¬
sentlichen Inhalt der ganzen römischen Rechtsgeschichte, den Sieg der ac^uitas
über das M8 strielurn dar: das Ms slrwlum wird zu Gunsten der -^uitas an
ein sah ste'ieüssimum, eine exeeptio gebunden, und hierdurch seinem Inhalt nach
vernichtet, obwol der Form nach aufrecht erhalten. Die Zwölftafelgesetze gestat¬
teten den Gläubigern, zunächst blos wenn es ihrer mehre sind, die Zertheilung
des zahlungsuufähigen Schuldners nach dem, Unzialvcrhältnisse der Schuld. Die
Sage nun macht die exo<zMo des Blutvergießens und des Mehr- oder Minder-
hauens." — Das alles spielt also in einer heidnischen Zeit und stellt eine all-
mälige Entwicklung der Rechtsbegriffe dar, wahrend in Shakspeares Drama die
christliche Zeit, welche den Todtschlag principiell nicht gelten läßt, welche nie zu¬
gibt, daß der Mensch zu einer Sache herabgesetzt werde, der Fabel widerspricht.
Der Zauber der Shakspeareschen Darstellung läßt uns diesen Fehler übersehen,
aber ein Fehler bleibt es.

Ein zweiter Umstand, den Herr Hehler zu rechtfertigen sucht, ist die Ge¬
schichte mit den drei Kästchen. Für unser gewöhnliches Bewußtsein ist es eine
Absurdität von Seiten des Vaters Porzias, das Schicksal seiner Tochter einer
Lotterie preiszugeben, und sowol durch diese Voraussetzung, als anch durch die
Form, in der die Freier eingeführt werden, kommt in diesen Theil der Handlung
etwas Hvlzschnittartiges, das zu dem reich und wahr ausgeführten Leben des an¬
dern Theils nicht recht stimmen will. Auch hier scheint uns Shakespeare seinen
Stoff uicht völlig überwunden zu haben. Es ist dies übrigens ein Dilemma,
dem fast alle dramatische Komposition unterliegt. Erfindet der Dichter sich seinen
Stoff, so bringt er ihm nicht jene Frische des Gemüths und der Phantasie ent¬
gegen, die für eine freie Bearbeitung nothwendig ist; läßt er ihn sich aber über¬
liefern, so wird er es schwer vermeiden können, daß einzelne Momente zurück¬
bleiben, die wol zu den älteren Voraussetzungen, aber nicht zu der Gesammt-
anschauuug deS neueren Dichters passen.

Dies wären die beiden Hauptpunkte, die wir gegen die Ansicht des Ver¬
fassers aufzustellen hätten. Anderes ist minder wesentlich. So geht er z. B. in
seiner Polemik gegen Ulrici zu weit, wenn er in der Flucht Jessicas und in dem
Diebstahl, den sie an den Schätzen ihres Vaters begeht, eine sittliche Noth¬
wendigkeit sieht und jeden Nechtsco,»flick wegleugnet. Ueber das Capitel der
Rechtscvuflicte scheint er überhaupt im Unklaren zu sein. Denn wenn er Ulrici
fortwährend fragt, was er denn an der Stelle der betreffenden Person gethan
haben würde, so heißt das die Schwierigkeit umgehe». Wenn eine Tochter ihrem
Vater entläuft, so ist das, wenn wir es ernst auffassen, immer ein Bruch der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/57>, abgerufen am 01.07.2024.