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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Stimmung zu steigen, pflegen, ist hier keine Spur. Das Vaterland und die
großen Weltverhältnisse deuten sich kaum im Traume an, mit der Religion macht
man sia> nur ausnahmsweise als schöne Seele zu thun, wenn man grade keine
andere Folie für die eigne Persönlichkeit findet. Alles Dichte" und Trachte" geht
darauf ans, eine spielende Beschäftigung zu finden, um dem druckenden Gefühl
der Langenweile zu entgehen. Ganz in den Kreis dieser Spielereien gehört die
geheime Verbindung, die eine Ironie auf sich selbst ist: denn sie hat die ganz
unerhörte Tendenz, alles geschehen zu lassen, wie es eben geschieht, und uur
ganz gelinde der individuellen Aufl'ilduug nachzuhelfen. Was aber am meisten
i" diesen höheren Kreisen der deutschen Gesellschaft befremdet, .ist die fast voll¬
ständige Abwesenheit aller stärkeren Leidenschaft. Eigenheiten, verschiedene
Bildungsstufe.n, Neigungen und kleine Interessen finden wir in Menge, anch
Wohlwollen und Humanität: daß aber einmal ein Mensch aus sich herausginge
"ut von einem gewaltigen Drang ergriffen sich selbst und die Umstände vergäße,
davon zeigt sich keine Spur. Das Blut des Lebens pulsirt träger, als wir es
in unsern nächsten Umgebungen gewöhnt find. Und wenn selbst in der Depra-
vation bei andern historischen Völkern die höchste Schicht der Gesellschaft zuweilen
eine ganz außerordentliche Gewalt der Leidenschaft entwickelt, die noch in ihrer
Krankhaftigkeit reizend ist, so scheint hier die Erwägung der Rücksichten, die Ent¬
sagung, die Form den Gedanken abzublassen, noch ehe er eigentlich ans Licht der
Welt getreten ist. -- Freilich finden wir in deu vorher angedeuteten dunkleren
Partien des Romans jene Glut der Empfindung wieder, die wir in der guten
Gesellschaft vergebens suchen; aber hier ist es fast schlimmer, denn es ist die Glut
des Wahnsinns, wie lieblich sich auch über sein grauenvolles Antlitz der duftige
Schleier der Poesie breitet. Mignon und der Harfenspieler werden geheilt, ihre
Poesie war eine Krankheit. Wol hatte Novalis voll seinem Standpunkte aus
recht, den Wilhelm Meister einen Candide gegen die Poesie zu nennen; den" er
löst mit übel verhehlter Bitterkeit auf, was die Romantiker Poesie zu nennen
pflegten -- nur daß ihr eignes Verfahren, bei dem Wahnsinn stehen zu bleibe" und
ihn z" empfehlen, weil er poetisch sei, etwas noch viel Schlimmeres war.

So müssen wir bei dem Eindruck des Wilhelm Meister ein zweifaches Motiv
unterscheide". Die erste Generation ergab sich ihm unbefangen und mit volle".
Recht, weil sie sich a" der Poesie erfreute, die aus jeder Seite dieses Werkes
hervorleuchtet. Die folgende Generation aber, die ihn sich durch deu Verstand
vermittelte, über die augenblickliche individuelle Befriedigung hinauszugehen strebte,
und die, was i" ihm mangelhaft war, zum poetischen Gesetz erhob, ist, wenn sie
zur Reproduktion überging, i" die widerwärtigste" Mißgriffe verfalle".

I" de" Rittern vom Geist haben wir wieder eine geheime Gesellschaft,
die den Zweck hat, die fehlende Idealität des Lebens zu ergänzen. Sie hat mit
der im Wilhelm Meister das Gemeinsame, daß ihr dieser Zweck nnr ganz un-


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Stimmung zu steigen, pflegen, ist hier keine Spur. Das Vaterland und die
großen Weltverhältnisse deuten sich kaum im Traume an, mit der Religion macht
man sia> nur ausnahmsweise als schöne Seele zu thun, wenn man grade keine
andere Folie für die eigne Persönlichkeit findet. Alles Dichte» und Trachte» geht
darauf ans, eine spielende Beschäftigung zu finden, um dem druckenden Gefühl
der Langenweile zu entgehen. Ganz in den Kreis dieser Spielereien gehört die
geheime Verbindung, die eine Ironie auf sich selbst ist: denn sie hat die ganz
unerhörte Tendenz, alles geschehen zu lassen, wie es eben geschieht, und uur
ganz gelinde der individuellen Aufl'ilduug nachzuhelfen. Was aber am meisten
i" diesen höheren Kreisen der deutschen Gesellschaft befremdet, .ist die fast voll¬
ständige Abwesenheit aller stärkeren Leidenschaft. Eigenheiten, verschiedene
Bildungsstufe.n, Neigungen und kleine Interessen finden wir in Menge, anch
Wohlwollen und Humanität: daß aber einmal ein Mensch aus sich herausginge
»ut von einem gewaltigen Drang ergriffen sich selbst und die Umstände vergäße,
davon zeigt sich keine Spur. Das Blut des Lebens pulsirt träger, als wir es
in unsern nächsten Umgebungen gewöhnt find. Und wenn selbst in der Depra-
vation bei andern historischen Völkern die höchste Schicht der Gesellschaft zuweilen
eine ganz außerordentliche Gewalt der Leidenschaft entwickelt, die noch in ihrer
Krankhaftigkeit reizend ist, so scheint hier die Erwägung der Rücksichten, die Ent¬
sagung, die Form den Gedanken abzublassen, noch ehe er eigentlich ans Licht der
Welt getreten ist. — Freilich finden wir in deu vorher angedeuteten dunkleren
Partien des Romans jene Glut der Empfindung wieder, die wir in der guten
Gesellschaft vergebens suchen; aber hier ist es fast schlimmer, denn es ist die Glut
des Wahnsinns, wie lieblich sich auch über sein grauenvolles Antlitz der duftige
Schleier der Poesie breitet. Mignon und der Harfenspieler werden geheilt, ihre
Poesie war eine Krankheit. Wol hatte Novalis voll seinem Standpunkte aus
recht, den Wilhelm Meister einen Candide gegen die Poesie zu nennen; den» er
löst mit übel verhehlter Bitterkeit auf, was die Romantiker Poesie zu nennen
pflegten — nur daß ihr eignes Verfahren, bei dem Wahnsinn stehen zu bleibe» und
ihn z» empfehlen, weil er poetisch sei, etwas noch viel Schlimmeres war.

So müssen wir bei dem Eindruck des Wilhelm Meister ein zweifaches Motiv
unterscheide». Die erste Generation ergab sich ihm unbefangen und mit volle».
Recht, weil sie sich a» der Poesie erfreute, die aus jeder Seite dieses Werkes
hervorleuchtet. Die folgende Generation aber, die ihn sich durch deu Verstand
vermittelte, über die augenblickliche individuelle Befriedigung hinauszugehen strebte,
und die, was i» ihm mangelhaft war, zum poetischen Gesetz erhob, ist, wenn sie
zur Reproduktion überging, i» die widerwärtigste» Mißgriffe verfalle».

I» de» Rittern vom Geist haben wir wieder eine geheime Gesellschaft,
die den Zweck hat, die fehlende Idealität des Lebens zu ergänzen. Sie hat mit
der im Wilhelm Meister das Gemeinsame, daß ihr dieser Zweck nnr ganz un-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/50>, abgerufen am 23.07.2024.