Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

könne, dem die Erscheinungen gehorchen müßten. In dieser Stimmung mußte
ein Werk wie der Hamlet einen außerordentlichen Einfluß ausüben. Der
Skepticismus, der sich in der Philosophie geltend machen will, hat eine sehr
bestimmte Grenze; denn bei ruhigem Nachdenken erkennt man leicht, daß schon
die Eristenz des wissenschaftlichen Zweifels allgemeingiltige Denkbestimmungen
voraussetzt: aber als poetische Stimmung hat er eine unglaubliche Gewalt
Über das Gemüth. Das Studium des Hamlet hat unsren Dichter einen großen
Theil seines Lebens hindurch beschäftigt und es war nicht, wie man aus dem
Wilhelm Meister vermuthen könnte, die dramatische Technik, sondern die düstere
Welt des allgemeinen Zweifels, was ihn fesselte. Hamlet brach mit der ganzen
Gewalt eines verbitterten Gemüths alle Bestimmungen der realen > Welt und
alle Gesetze; es erschienen ihm die Geister aus den Gräbern und nach ihrer
Farbe verwandelte sich die ganze übrige Welt in Schatten; über die Bestimmun¬
gen der sittlichen Welt dachte er ungefähr, wie sich Mephistopheles dem
Schüler gegenüber ausspricht; zuletzt stand ihm im Leben nur eins fest, an das
er glaubte: der Tod, und vor diesem fürchtete er sich, weil man vielleicht auch
im Tode, träumen könne.

Wenn man alle diese Erscheinungen zusammennimmt, so sind die sämmt¬
lichen Ingredienzien des Faust bereits gegeben. Allein Goethe war bereits
1790 aus dem Zustande der Empörung herausgetreten; sein Studium der
Natur, wenn es auch zu keinem unmittelbaren bleibenden Resultate führte, hatte
ihn wenigstens gelehrt, daß Juan auch die Forschung geistvoller betreiben könne,
als die Wagner der bisherigen Gelehrsamkeit, daß man ohne Magie zum Leben
und zur Idee, zum Innern der Natur vordringen könne. Sein Studium der
bildenden Kunst und des griechischen Lebens hat ihm das Maß als das Höchste
der Menschheit verehren gelehrt. Das Gedicht, das im romantischen Sinne
angefangen war, drängte sich wie ein Traumbild in die Zeit seiner classischen
Bildung.

Das Alterthum kannte das Gefühl des unendlichen Contrastes zwischen
dem, was der Geist wollen kann, und dem, was die Wirklichkeit ihm bietet,'
nicht, weil es fromm war, weil es das Individuum herabdrückte, weil es die
Kraft mit dem Maß, der Grenze der Kraft, vermählte, weil ihm die gesammte
Natur in ihr!er Nothwendigkeit höher stand, als das einzelne Herz in seinen
wechselnden Stimmungen, weil es nur Bestimmtes wollte, suchte, fragte, und
daher nur einen endlichen Schmerz empfinden konnte, nicht den wüsten Traum
des sogenannten Weltschmerzes, weil es die Götter, d. h. die Weltmacht ehrte,
auch wo es sie nicht.verstand. Als aber der sittliche Organismus des'Alter¬
thums brach, und der Einzelne sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtete,
da wurde es möglich, daß die Unendlichkeit der sogenannten geistigen Ansprüche
im Contrast mit der Bestimmtheit und also Endlichkeit der Welt zu. jenem


.62" ,

könne, dem die Erscheinungen gehorchen müßten. In dieser Stimmung mußte
ein Werk wie der Hamlet einen außerordentlichen Einfluß ausüben. Der
Skepticismus, der sich in der Philosophie geltend machen will, hat eine sehr
bestimmte Grenze; denn bei ruhigem Nachdenken erkennt man leicht, daß schon
die Eristenz des wissenschaftlichen Zweifels allgemeingiltige Denkbestimmungen
voraussetzt: aber als poetische Stimmung hat er eine unglaubliche Gewalt
Über das Gemüth. Das Studium des Hamlet hat unsren Dichter einen großen
Theil seines Lebens hindurch beschäftigt und es war nicht, wie man aus dem
Wilhelm Meister vermuthen könnte, die dramatische Technik, sondern die düstere
Welt des allgemeinen Zweifels, was ihn fesselte. Hamlet brach mit der ganzen
Gewalt eines verbitterten Gemüths alle Bestimmungen der realen > Welt und
alle Gesetze; es erschienen ihm die Geister aus den Gräbern und nach ihrer
Farbe verwandelte sich die ganze übrige Welt in Schatten; über die Bestimmun¬
gen der sittlichen Welt dachte er ungefähr, wie sich Mephistopheles dem
Schüler gegenüber ausspricht; zuletzt stand ihm im Leben nur eins fest, an das
er glaubte: der Tod, und vor diesem fürchtete er sich, weil man vielleicht auch
im Tode, träumen könne.

Wenn man alle diese Erscheinungen zusammennimmt, so sind die sämmt¬
lichen Ingredienzien des Faust bereits gegeben. Allein Goethe war bereits
1790 aus dem Zustande der Empörung herausgetreten; sein Studium der
Natur, wenn es auch zu keinem unmittelbaren bleibenden Resultate führte, hatte
ihn wenigstens gelehrt, daß Juan auch die Forschung geistvoller betreiben könne,
als die Wagner der bisherigen Gelehrsamkeit, daß man ohne Magie zum Leben
und zur Idee, zum Innern der Natur vordringen könne. Sein Studium der
bildenden Kunst und des griechischen Lebens hat ihm das Maß als das Höchste
der Menschheit verehren gelehrt. Das Gedicht, das im romantischen Sinne
angefangen war, drängte sich wie ein Traumbild in die Zeit seiner classischen
Bildung.

Das Alterthum kannte das Gefühl des unendlichen Contrastes zwischen
dem, was der Geist wollen kann, und dem, was die Wirklichkeit ihm bietet,'
nicht, weil es fromm war, weil es das Individuum herabdrückte, weil es die
Kraft mit dem Maß, der Grenze der Kraft, vermählte, weil ihm die gesammte
Natur in ihr!er Nothwendigkeit höher stand, als das einzelne Herz in seinen
wechselnden Stimmungen, weil es nur Bestimmtes wollte, suchte, fragte, und
daher nur einen endlichen Schmerz empfinden konnte, nicht den wüsten Traum
des sogenannten Weltschmerzes, weil es die Götter, d. h. die Weltmacht ehrte,
auch wo es sie nicht.verstand. Als aber der sittliche Organismus des'Alter¬
thums brach, und der Einzelne sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtete,
da wurde es möglich, daß die Unendlichkeit der sogenannten geistigen Ansprüche
im Contrast mit der Bestimmtheit und also Endlichkeit der Welt zu. jenem


.62" ,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98279"/>
          <p xml:id="ID_1600" prev="#ID_1599"> könne, dem die Erscheinungen gehorchen müßten. In dieser Stimmung mußte<lb/>
ein Werk wie der Hamlet einen außerordentlichen Einfluß ausüben. Der<lb/>
Skepticismus, der sich in der Philosophie geltend machen will, hat eine sehr<lb/>
bestimmte Grenze; denn bei ruhigem Nachdenken erkennt man leicht, daß schon<lb/>
die Eristenz des wissenschaftlichen Zweifels allgemeingiltige Denkbestimmungen<lb/>
voraussetzt: aber als poetische Stimmung hat er eine unglaubliche Gewalt<lb/>
Über das Gemüth. Das Studium des Hamlet hat unsren Dichter einen großen<lb/>
Theil seines Lebens hindurch beschäftigt und es war nicht, wie man aus dem<lb/>
Wilhelm Meister vermuthen könnte, die dramatische Technik, sondern die düstere<lb/>
Welt des allgemeinen Zweifels, was ihn fesselte. Hamlet brach mit der ganzen<lb/>
Gewalt eines verbitterten Gemüths alle Bestimmungen der realen &gt; Welt und<lb/>
alle Gesetze; es erschienen ihm die Geister aus den Gräbern und nach ihrer<lb/>
Farbe verwandelte sich die ganze übrige Welt in Schatten; über die Bestimmun¬<lb/>
gen der sittlichen Welt dachte er ungefähr, wie sich Mephistopheles dem<lb/>
Schüler gegenüber ausspricht; zuletzt stand ihm im Leben nur eins fest, an das<lb/>
er glaubte: der Tod, und vor diesem fürchtete er sich, weil man vielleicht auch<lb/>
im Tode, träumen könne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1601"> Wenn man alle diese Erscheinungen zusammennimmt, so sind die sämmt¬<lb/>
lichen Ingredienzien des Faust bereits gegeben. Allein Goethe war bereits<lb/>
1790 aus dem Zustande der Empörung herausgetreten; sein Studium der<lb/>
Natur, wenn es auch zu keinem unmittelbaren bleibenden Resultate führte, hatte<lb/>
ihn wenigstens gelehrt, daß Juan auch die Forschung geistvoller betreiben könne,<lb/>
als die Wagner der bisherigen Gelehrsamkeit, daß man ohne Magie zum Leben<lb/>
und zur Idee, zum Innern der Natur vordringen könne. Sein Studium der<lb/>
bildenden Kunst und des griechischen Lebens hat ihm das Maß als das Höchste<lb/>
der Menschheit verehren gelehrt. Das Gedicht, das im romantischen Sinne<lb/>
angefangen war, drängte sich wie ein Traumbild in die Zeit seiner classischen<lb/>
Bildung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1602" next="#ID_1603"> Das Alterthum kannte das Gefühl des unendlichen Contrastes zwischen<lb/>
dem, was der Geist wollen kann, und dem, was die Wirklichkeit ihm bietet,'<lb/>
nicht, weil es fromm war, weil es das Individuum herabdrückte, weil es die<lb/>
Kraft mit dem Maß, der Grenze der Kraft, vermählte, weil ihm die gesammte<lb/>
Natur in ihr!er Nothwendigkeit höher stand, als das einzelne Herz in seinen<lb/>
wechselnden Stimmungen, weil es nur Bestimmtes wollte, suchte, fragte, und<lb/>
daher nur einen endlichen Schmerz empfinden konnte, nicht den wüsten Traum<lb/>
des sogenannten Weltschmerzes, weil es die Götter, d. h. die Weltmacht ehrte,<lb/>
auch wo es sie nicht.verstand. Als aber der sittliche Organismus des'Alter¬<lb/>
thums brach, und der Einzelne sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtete,<lb/>
da wurde es möglich, daß die Unendlichkeit der sogenannten geistigen Ansprüche<lb/>
im Contrast mit der Bestimmtheit und also Endlichkeit der Welt zu. jenem</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> .62" ,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0499] könne, dem die Erscheinungen gehorchen müßten. In dieser Stimmung mußte ein Werk wie der Hamlet einen außerordentlichen Einfluß ausüben. Der Skepticismus, der sich in der Philosophie geltend machen will, hat eine sehr bestimmte Grenze; denn bei ruhigem Nachdenken erkennt man leicht, daß schon die Eristenz des wissenschaftlichen Zweifels allgemeingiltige Denkbestimmungen voraussetzt: aber als poetische Stimmung hat er eine unglaubliche Gewalt Über das Gemüth. Das Studium des Hamlet hat unsren Dichter einen großen Theil seines Lebens hindurch beschäftigt und es war nicht, wie man aus dem Wilhelm Meister vermuthen könnte, die dramatische Technik, sondern die düstere Welt des allgemeinen Zweifels, was ihn fesselte. Hamlet brach mit der ganzen Gewalt eines verbitterten Gemüths alle Bestimmungen der realen > Welt und alle Gesetze; es erschienen ihm die Geister aus den Gräbern und nach ihrer Farbe verwandelte sich die ganze übrige Welt in Schatten; über die Bestimmun¬ gen der sittlichen Welt dachte er ungefähr, wie sich Mephistopheles dem Schüler gegenüber ausspricht; zuletzt stand ihm im Leben nur eins fest, an das er glaubte: der Tod, und vor diesem fürchtete er sich, weil man vielleicht auch im Tode, träumen könne. Wenn man alle diese Erscheinungen zusammennimmt, so sind die sämmt¬ lichen Ingredienzien des Faust bereits gegeben. Allein Goethe war bereits 1790 aus dem Zustande der Empörung herausgetreten; sein Studium der Natur, wenn es auch zu keinem unmittelbaren bleibenden Resultate führte, hatte ihn wenigstens gelehrt, daß Juan auch die Forschung geistvoller betreiben könne, als die Wagner der bisherigen Gelehrsamkeit, daß man ohne Magie zum Leben und zur Idee, zum Innern der Natur vordringen könne. Sein Studium der bildenden Kunst und des griechischen Lebens hat ihm das Maß als das Höchste der Menschheit verehren gelehrt. Das Gedicht, das im romantischen Sinne angefangen war, drängte sich wie ein Traumbild in die Zeit seiner classischen Bildung. Das Alterthum kannte das Gefühl des unendlichen Contrastes zwischen dem, was der Geist wollen kann, und dem, was die Wirklichkeit ihm bietet,' nicht, weil es fromm war, weil es das Individuum herabdrückte, weil es die Kraft mit dem Maß, der Grenze der Kraft, vermählte, weil ihm die gesammte Natur in ihr!er Nothwendigkeit höher stand, als das einzelne Herz in seinen wechselnden Stimmungen, weil es nur Bestimmtes wollte, suchte, fragte, und daher nur einen endlichen Schmerz empfinden konnte, nicht den wüsten Traum des sogenannten Weltschmerzes, weil es die Götter, d. h. die Weltmacht ehrte, auch wo es sie nicht.verstand. Als aber der sittliche Organismus des'Alter¬ thums brach, und der Einzelne sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtete, da wurde es möglich, daß die Unendlichkeit der sogenannten geistigen Ansprüche im Contrast mit der Bestimmtheit und also Endlichkeit der Welt zu. jenem .62" ,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/498
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/498>, abgerufen am 23.07.2024.