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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Die Lage Oestreichs in der gegenwärtigen Krisis.
,

Unter den vielen wunderbaren Ereignissen der letzten Jahre ist vielleicht
keines, welches die allgemeine Aufmerksamkeit in so hohem Grade verdient und
soviel Stoff zum Denken gibt, als die Umgestaltung der Lage des östreichischen
Kaiserstaats. Im Jahr 18i8 gehörte einiger N/ues dazu, an den welthistori¬
schen Beruf dieses Staats und an die Möglichkeit seiner Forteristenz zu glauben.
Im. Auslande war man in Gedanken schon eifrig beschäftigt, ihn in seine
nationalen Bestandtheile zu zerlegen und in Oestreich selbst sah es wenigstens
eine Zeitlang sast so aus, als wären alle wirklich aufstrebenden Kräfte dem
Kaiserstaat feindlich. Von der republikanischen Partei, die zum Erstaunen aller
Welt auftauchte, ganz abgesehen, wollten die deutschen Unterthanen Oestreichs
dem neu zu gründenden deutschen Reiche angehören, wenn sie auch billig genug
dachten, die Krone dieses neuen Reiches ihrem eignen Herrschergeschlecht zuzu¬
wenden. Die Lombarden und Venetianer traten für die Unabhängigkeit Italiens
auf, die Ungarn wollten ein eignes Königreich aufrichten, die Polen zog die
natürliche Schwerkraft der Nation nach Osten hin, und wenn die übrige
slawische Bevölkerung diesen vereinigten Tendenzen gegenüber an der Gcsammt-
monarchie festhielt, so war doch leicht zu durchschauen, daß sie darunter etwas
ganz Anderes verstand, als was Oestreich in der Geschichte, bisher gewesen war.
Sie wollten den vorherrschend deutschen Staat in einen vorherrschend slawischen
verwandeln, und bei der handgreiflichen Unausführbarkeit dieses Vorhabens
und der gewöhnlichen Unstetigkeit in ihren Entschlüssen konnte man leicht
voraussetzen, daß unter veränderten Umständen diese vanslawistischcn Ideen
sich auch nach einer andern Stütze umsehen würden, z. B. nach dem stamm¬
verwandten Rußland.

-Betrachten wir heute die innere Haltung des Kaiserstaats,, so macht er
aus uns den grade entgegengesetzten Eindruck. Zwar fehlt sehr viel daran, daß
alle Uebelstände beseitigt, allen gerechten Beschwerden Abhilfe gethan wäre;


Grenzboten. II. -ILöi. ' 46
Die Lage Oestreichs in der gegenwärtigen Krisis.
,

Unter den vielen wunderbaren Ereignissen der letzten Jahre ist vielleicht
keines, welches die allgemeine Aufmerksamkeit in so hohem Grade verdient und
soviel Stoff zum Denken gibt, als die Umgestaltung der Lage des östreichischen
Kaiserstaats. Im Jahr 18i8 gehörte einiger N/ues dazu, an den welthistori¬
schen Beruf dieses Staats und an die Möglichkeit seiner Forteristenz zu glauben.
Im. Auslande war man in Gedanken schon eifrig beschäftigt, ihn in seine
nationalen Bestandtheile zu zerlegen und in Oestreich selbst sah es wenigstens
eine Zeitlang sast so aus, als wären alle wirklich aufstrebenden Kräfte dem
Kaiserstaat feindlich. Von der republikanischen Partei, die zum Erstaunen aller
Welt auftauchte, ganz abgesehen, wollten die deutschen Unterthanen Oestreichs
dem neu zu gründenden deutschen Reiche angehören, wenn sie auch billig genug
dachten, die Krone dieses neuen Reiches ihrem eignen Herrschergeschlecht zuzu¬
wenden. Die Lombarden und Venetianer traten für die Unabhängigkeit Italiens
auf, die Ungarn wollten ein eignes Königreich aufrichten, die Polen zog die
natürliche Schwerkraft der Nation nach Osten hin, und wenn die übrige
slawische Bevölkerung diesen vereinigten Tendenzen gegenüber an der Gcsammt-
monarchie festhielt, so war doch leicht zu durchschauen, daß sie darunter etwas
ganz Anderes verstand, als was Oestreich in der Geschichte, bisher gewesen war.
Sie wollten den vorherrschend deutschen Staat in einen vorherrschend slawischen
verwandeln, und bei der handgreiflichen Unausführbarkeit dieses Vorhabens
und der gewöhnlichen Unstetigkeit in ihren Entschlüssen konnte man leicht
voraussetzen, daß unter veränderten Umständen diese vanslawistischcn Ideen
sich auch nach einer andern Stütze umsehen würden, z. B. nach dem stamm¬
verwandten Rußland.

-Betrachten wir heute die innere Haltung des Kaiserstaats,, so macht er
aus uns den grade entgegengesetzten Eindruck. Zwar fehlt sehr viel daran, daß
alle Uebelstände beseitigt, allen gerechten Beschwerden Abhilfe gethan wäre;


Grenzboten. II. -ILöi. ' 46
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[0369] Die Lage Oestreichs in der gegenwärtigen Krisis. , Unter den vielen wunderbaren Ereignissen der letzten Jahre ist vielleicht keines, welches die allgemeine Aufmerksamkeit in so hohem Grade verdient und soviel Stoff zum Denken gibt, als die Umgestaltung der Lage des östreichischen Kaiserstaats. Im Jahr 18i8 gehörte einiger N/ues dazu, an den welthistori¬ schen Beruf dieses Staats und an die Möglichkeit seiner Forteristenz zu glauben. Im. Auslande war man in Gedanken schon eifrig beschäftigt, ihn in seine nationalen Bestandtheile zu zerlegen und in Oestreich selbst sah es wenigstens eine Zeitlang sast so aus, als wären alle wirklich aufstrebenden Kräfte dem Kaiserstaat feindlich. Von der republikanischen Partei, die zum Erstaunen aller Welt auftauchte, ganz abgesehen, wollten die deutschen Unterthanen Oestreichs dem neu zu gründenden deutschen Reiche angehören, wenn sie auch billig genug dachten, die Krone dieses neuen Reiches ihrem eignen Herrschergeschlecht zuzu¬ wenden. Die Lombarden und Venetianer traten für die Unabhängigkeit Italiens auf, die Ungarn wollten ein eignes Königreich aufrichten, die Polen zog die natürliche Schwerkraft der Nation nach Osten hin, und wenn die übrige slawische Bevölkerung diesen vereinigten Tendenzen gegenüber an der Gcsammt- monarchie festhielt, so war doch leicht zu durchschauen, daß sie darunter etwas ganz Anderes verstand, als was Oestreich in der Geschichte, bisher gewesen war. Sie wollten den vorherrschend deutschen Staat in einen vorherrschend slawischen verwandeln, und bei der handgreiflichen Unausführbarkeit dieses Vorhabens und der gewöhnlichen Unstetigkeit in ihren Entschlüssen konnte man leicht voraussetzen, daß unter veränderten Umständen diese vanslawistischcn Ideen sich auch nach einer andern Stütze umsehen würden, z. B. nach dem stamm¬ verwandten Rußland. -Betrachten wir heute die innere Haltung des Kaiserstaats,, so macht er aus uns den grade entgegengesetzten Eindruck. Zwar fehlt sehr viel daran, daß alle Uebelstände beseitigt, allen gerechten Beschwerden Abhilfe gethan wäre; Grenzboten. II. -ILöi. ' 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/368>, abgerufen am 01.07.2024.