Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

einzelner Staaten getroffen hatte, und daß es namentlich Rußlands Politik
gewesen, welche ihre Bestrebungen bei endlicher Feststellung einer neuen und
für lange Zeit dauernden Ordnung der Dinge berücksichtigt gesehen, wogegen
Deutschland, und in diesem Conglomerat großer und kleiner Staaten wiederum
' am meisten Preußen, im nicht zu bestreitendem Nachtheil verblieben.

Man wolle sich erinnern, wie der Wiener 'Kongreß, welcher über die po¬
litische Neugestaltung des Welttheils zu entscheiden hatte, Europa vorfand.
Die Stürme, welche von West nach Ost darüber hingegangen waren, hatten
den Besitzstand, namentlich der in der Mitte gelegenen Staaten, erschüttert;
ein großes, weitgedehntes Reich, das polnische, war über den Haufen ge¬
worfen worden, und der mit wenig Ernst unternommene Versuch seiner Wieder¬
aufrichtung ließ schließlich nichts zurück als ein "Großherzogthum Warschau".
Preußen und Oestreich hatten ihre Westprovinzen verloren und in provisorischen
Rückbesitz genommen; die Niederlande, die Schweiz, Oberitalien waren so zu
sagen herrenlos -- im wesentlichen aber waren es zwei Ländermassen, über
welche Hauptentscheidungen getroffen werden mußten: unser Vaterland
und das der Sarmaten.

Was jetzt nicht mehr möglich ist, weil die inzwischen nach Osten mächtig
vorgeschrittene germanische Cultur Rücksichten verlangt, die vor vierzig
Jahren sich noch nicht geltend gemacht hatten, das konnte damals der Wiener
Congreß: er vermochte Polen als selbstständige Macht wiederher¬
zustellen.

Mit der Retablirung des polnischen Reiches hätten die Verhältnisse im
Osten einen Halt gewonnen, der so lange bestanden haben möchte, als deutsches
Wesen, durch Einwanderung in jenen Gegenden übermächtig geworden, und
letztlich der Anfall der sarma.dischen Lande an das große deutsche Staatsgebiet
in ähnlicher Weise vor sich gegangen sein würde, wie heutzutage die allmälige
Einverleibung Merikos in die Vereinigten Staaten. Es ist unbestreitbar, daß
man Nußland seine Westgrenze an den Pinsker Sümpfen stellen 'mußte, wenn
man seine Gelüste nach einem dominirenden Einfluß über Mitteleuropa ein¬
schränken wollte, und nicht minder einleuchtend ist es, daß es Schweden und
Norwegen in die Hände des Zaren geben hieß, wenn man Finnland mit
Rußland vereinigt und den Russen damit die beiden, im Winter trefflich zu
nutzenden Inselgruppen des Quarten und der Aalandinseln> welche zwei
feste Eisbrücken abgeben, im Besitz verbleiben ließ. Aber es geschieht nicht
selten, daß kleine Interessen des Augenblicks über die der Zukunft blind ma¬
chen. Von der Mitschuld an den unverzeihlicher Fehlern und Versäumnissen
bei Feststellung des Protokolls zu Wien im Jahre 181i ist nicht einer der
dort im Namen der deutschen wie der westlichen Großmächte agirenden Staats¬
männer freizusprechen. Die am ehesten noch ahneten, in welches Labyrinth


einzelner Staaten getroffen hatte, und daß es namentlich Rußlands Politik
gewesen, welche ihre Bestrebungen bei endlicher Feststellung einer neuen und
für lange Zeit dauernden Ordnung der Dinge berücksichtigt gesehen, wogegen
Deutschland, und in diesem Conglomerat großer und kleiner Staaten wiederum
' am meisten Preußen, im nicht zu bestreitendem Nachtheil verblieben.

Man wolle sich erinnern, wie der Wiener 'Kongreß, welcher über die po¬
litische Neugestaltung des Welttheils zu entscheiden hatte, Europa vorfand.
Die Stürme, welche von West nach Ost darüber hingegangen waren, hatten
den Besitzstand, namentlich der in der Mitte gelegenen Staaten, erschüttert;
ein großes, weitgedehntes Reich, das polnische, war über den Haufen ge¬
worfen worden, und der mit wenig Ernst unternommene Versuch seiner Wieder¬
aufrichtung ließ schließlich nichts zurück als ein „Großherzogthum Warschau".
Preußen und Oestreich hatten ihre Westprovinzen verloren und in provisorischen
Rückbesitz genommen; die Niederlande, die Schweiz, Oberitalien waren so zu
sagen herrenlos — im wesentlichen aber waren es zwei Ländermassen, über
welche Hauptentscheidungen getroffen werden mußten: unser Vaterland
und das der Sarmaten.

Was jetzt nicht mehr möglich ist, weil die inzwischen nach Osten mächtig
vorgeschrittene germanische Cultur Rücksichten verlangt, die vor vierzig
Jahren sich noch nicht geltend gemacht hatten, das konnte damals der Wiener
Congreß: er vermochte Polen als selbstständige Macht wiederher¬
zustellen.

Mit der Retablirung des polnischen Reiches hätten die Verhältnisse im
Osten einen Halt gewonnen, der so lange bestanden haben möchte, als deutsches
Wesen, durch Einwanderung in jenen Gegenden übermächtig geworden, und
letztlich der Anfall der sarma.dischen Lande an das große deutsche Staatsgebiet
in ähnlicher Weise vor sich gegangen sein würde, wie heutzutage die allmälige
Einverleibung Merikos in die Vereinigten Staaten. Es ist unbestreitbar, daß
man Nußland seine Westgrenze an den Pinsker Sümpfen stellen 'mußte, wenn
man seine Gelüste nach einem dominirenden Einfluß über Mitteleuropa ein¬
schränken wollte, und nicht minder einleuchtend ist es, daß es Schweden und
Norwegen in die Hände des Zaren geben hieß, wenn man Finnland mit
Rußland vereinigt und den Russen damit die beiden, im Winter trefflich zu
nutzenden Inselgruppen des Quarten und der Aalandinseln> welche zwei
feste Eisbrücken abgeben, im Besitz verbleiben ließ. Aber es geschieht nicht
selten, daß kleine Interessen des Augenblicks über die der Zukunft blind ma¬
chen. Von der Mitschuld an den unverzeihlicher Fehlern und Versäumnissen
bei Feststellung des Protokolls zu Wien im Jahre 181i ist nicht einer der
dort im Namen der deutschen wie der westlichen Großmächte agirenden Staats¬
männer freizusprechen. Die am ehesten noch ahneten, in welches Labyrinth


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98097"/>
          <p xml:id="ID_996" prev="#ID_995"> einzelner Staaten getroffen hatte, und daß es namentlich Rußlands Politik<lb/>
gewesen, welche ihre Bestrebungen bei endlicher Feststellung einer neuen und<lb/>
für lange Zeit dauernden Ordnung der Dinge berücksichtigt gesehen, wogegen<lb/>
Deutschland, und in diesem Conglomerat großer und kleiner Staaten wiederum<lb/>
' am meisten Preußen, im nicht zu bestreitendem Nachtheil verblieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_997"> Man wolle sich erinnern, wie der Wiener 'Kongreß, welcher über die po¬<lb/>
litische Neugestaltung des Welttheils zu entscheiden hatte, Europa vorfand.<lb/>
Die Stürme, welche von West nach Ost darüber hingegangen waren, hatten<lb/>
den Besitzstand, namentlich der in der Mitte gelegenen Staaten, erschüttert;<lb/>
ein großes, weitgedehntes Reich, das polnische, war über den Haufen ge¬<lb/>
worfen worden, und der mit wenig Ernst unternommene Versuch seiner Wieder¬<lb/>
aufrichtung ließ schließlich nichts zurück als ein &#x201E;Großherzogthum Warschau".<lb/>
Preußen und Oestreich hatten ihre Westprovinzen verloren und in provisorischen<lb/>
Rückbesitz genommen; die Niederlande, die Schweiz, Oberitalien waren so zu<lb/>
sagen herrenlos &#x2014; im wesentlichen aber waren es zwei Ländermassen, über<lb/>
welche Hauptentscheidungen getroffen werden mußten: unser Vaterland<lb/>
und das der Sarmaten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_998"> Was jetzt nicht mehr möglich ist, weil die inzwischen nach Osten mächtig<lb/>
vorgeschrittene germanische Cultur Rücksichten verlangt, die vor vierzig<lb/>
Jahren sich noch nicht geltend gemacht hatten, das konnte damals der Wiener<lb/>
Congreß: er vermochte Polen als selbstständige Macht wiederher¬<lb/>
zustellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_999" next="#ID_1000"> Mit der Retablirung des polnischen Reiches hätten die Verhältnisse im<lb/>
Osten einen Halt gewonnen, der so lange bestanden haben möchte, als deutsches<lb/>
Wesen, durch Einwanderung in jenen Gegenden übermächtig geworden, und<lb/>
letztlich der Anfall der sarma.dischen Lande an das große deutsche Staatsgebiet<lb/>
in ähnlicher Weise vor sich gegangen sein würde, wie heutzutage die allmälige<lb/>
Einverleibung Merikos in die Vereinigten Staaten. Es ist unbestreitbar, daß<lb/>
man Nußland seine Westgrenze an den Pinsker Sümpfen stellen 'mußte, wenn<lb/>
man seine Gelüste nach einem dominirenden Einfluß über Mitteleuropa ein¬<lb/>
schränken wollte, und nicht minder einleuchtend ist es, daß es Schweden und<lb/>
Norwegen in die Hände des Zaren geben hieß, wenn man Finnland mit<lb/>
Rußland vereinigt und den Russen damit die beiden, im Winter trefflich zu<lb/>
nutzenden Inselgruppen des Quarten und der Aalandinseln&gt; welche zwei<lb/>
feste Eisbrücken abgeben, im Besitz verbleiben ließ. Aber es geschieht nicht<lb/>
selten, daß kleine Interessen des Augenblicks über die der Zukunft blind ma¬<lb/>
chen. Von der Mitschuld an den unverzeihlicher Fehlern und Versäumnissen<lb/>
bei Feststellung des Protokolls zu Wien im Jahre 181i ist nicht einer der<lb/>
dort im Namen der deutschen wie der westlichen Großmächte agirenden Staats¬<lb/>
männer freizusprechen. Die am ehesten noch ahneten, in welches Labyrinth</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0317] einzelner Staaten getroffen hatte, und daß es namentlich Rußlands Politik gewesen, welche ihre Bestrebungen bei endlicher Feststellung einer neuen und für lange Zeit dauernden Ordnung der Dinge berücksichtigt gesehen, wogegen Deutschland, und in diesem Conglomerat großer und kleiner Staaten wiederum ' am meisten Preußen, im nicht zu bestreitendem Nachtheil verblieben. Man wolle sich erinnern, wie der Wiener 'Kongreß, welcher über die po¬ litische Neugestaltung des Welttheils zu entscheiden hatte, Europa vorfand. Die Stürme, welche von West nach Ost darüber hingegangen waren, hatten den Besitzstand, namentlich der in der Mitte gelegenen Staaten, erschüttert; ein großes, weitgedehntes Reich, das polnische, war über den Haufen ge¬ worfen worden, und der mit wenig Ernst unternommene Versuch seiner Wieder¬ aufrichtung ließ schließlich nichts zurück als ein „Großherzogthum Warschau". Preußen und Oestreich hatten ihre Westprovinzen verloren und in provisorischen Rückbesitz genommen; die Niederlande, die Schweiz, Oberitalien waren so zu sagen herrenlos — im wesentlichen aber waren es zwei Ländermassen, über welche Hauptentscheidungen getroffen werden mußten: unser Vaterland und das der Sarmaten. Was jetzt nicht mehr möglich ist, weil die inzwischen nach Osten mächtig vorgeschrittene germanische Cultur Rücksichten verlangt, die vor vierzig Jahren sich noch nicht geltend gemacht hatten, das konnte damals der Wiener Congreß: er vermochte Polen als selbstständige Macht wiederher¬ zustellen. Mit der Retablirung des polnischen Reiches hätten die Verhältnisse im Osten einen Halt gewonnen, der so lange bestanden haben möchte, als deutsches Wesen, durch Einwanderung in jenen Gegenden übermächtig geworden, und letztlich der Anfall der sarma.dischen Lande an das große deutsche Staatsgebiet in ähnlicher Weise vor sich gegangen sein würde, wie heutzutage die allmälige Einverleibung Merikos in die Vereinigten Staaten. Es ist unbestreitbar, daß man Nußland seine Westgrenze an den Pinsker Sümpfen stellen 'mußte, wenn man seine Gelüste nach einem dominirenden Einfluß über Mitteleuropa ein¬ schränken wollte, und nicht minder einleuchtend ist es, daß es Schweden und Norwegen in die Hände des Zaren geben hieß, wenn man Finnland mit Rußland vereinigt und den Russen damit die beiden, im Winter trefflich zu nutzenden Inselgruppen des Quarten und der Aalandinseln> welche zwei feste Eisbrücken abgeben, im Besitz verbleiben ließ. Aber es geschieht nicht selten, daß kleine Interessen des Augenblicks über die der Zukunft blind ma¬ chen. Von der Mitschuld an den unverzeihlicher Fehlern und Versäumnissen bei Feststellung des Protokolls zu Wien im Jahre 181i ist nicht einer der dort im Namen der deutschen wie der westlichen Großmächte agirenden Staats¬ männer freizusprechen. Die am ehesten noch ahneten, in welches Labyrinth

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/316
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/316>, abgerufen am 22.12.2024.