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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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land ein verschiedenes Verhältniß ob. Weder England noch Frankreich grenzen
mit irgend einem Theile ihres Gebiets an das Zarenreich oder dessen Depen-
denzien an. Im Gegentheil sind beide durch ganze Staatenreihen und weit-
gedehnte Meere von demselben geschieden, und so groß ist diese Entlegenheit'
und so evident die russische Inferiorität zur See, daß dieser letzteren Macht
kein Weg irgend welcher Art zu Gebote steht, auf welchem sie, M welcher
Weise es auch immerhin versucht werden möchte, einen offensiven Krieg gegen
die Weststaaten auszuführen im Stande wäre. Das heißt so viel als: in den
Händen Englands und Frankreichs liegt die Initiative deS Krieges; sie
allein sind im Besitz der Möglichkeit des Angriffs und es ist in ihr freies Be¬
lieben gegeben, welche Ausdehnung sie demselben geben wollen.

Je mehr ein Staat sich in solcher Lage beim Kriegsausbruch befindet, wie
die oben bezeichnete, desto freier wird er im Stande sein, die nämliche Politik,
welche im Frieden für ihn maßgebend gewesen, auch unter den Waffen zu ver¬
folgen. Die einzige Frage, um die es sich unter solchen Umständen in Rücksicht -
auf etwaige Variationen in der Staatöleitung handelt, ist die: für welche po¬
litische Zwecke her Krieg geführt werden soll, woraus sich dann der nothwendige
Aufwand an Mitteln ergibt.

In dem vorliegenden Falle sind die Linien, welche die bestimmenden Ver¬
hältnisse umgrenzen, so scharf gezogen, daß es nicht schwer ist, diese selbst zu
definiren. England wie Frankreich haben zwei Ziele vor sich, zwischen denen
sie wählen können. Entweder entscheiden sie sich dafür, die Türkei zu decken,
sei es nun, daß dies durch directen Widerstand auf dem türkischen Gebiet
gegen den russischen Vormarsch auf Konstantinopel, sei es, daß es durch eine
Landung bei Odessa, auf der Krim, in Finnland oder sonst wo geschieht.
Dieses Ziel ist das näher gelegene, leichter zu erreichende und geringere Mittel
in Anspruch nehmende. Das andere ist dies: Nußland in entscheidender Weise
anzugreifen, den Krieg mit der Tendenz nach großen Resultaten zu führen und
schließlich den Zarcnstaat zu schwächen und zu demüthigen. Um diesen Plan
zu realisiren, bedarf es unermeßlicher Kräfte, der ganzen Energie und Macht-
zusammennähme 'beider Nationen.

Daß diese beiden Wege Frankreich und England offen stehen, und daß
sie die einzigen sind, über welche man zu berathschlagen hatte, leuchtet zu klar
ein, als daß eine weitere Erörterung darüber nothwendig wäre. Schwieriger
ist es, zu bestimmen, welche Wahl man alö kalt, getroffen hat, denn eine Ent¬
scheidung ist ohne Zweifel schon darüber gefallen.

Wenn eS erlaubt ist, aus hier gemachten Kriegsvorbereitungen der beiden
Westmächte einen Schluß zu ziehen, so möchte ich mich für die Annahme ent¬
scheiden, daß man vorerst nur die Sicherstellung der Existenz des türkischen
Reiches bezweckt. Es wird nämlich immer klarer, daß die Gesammtmasse des
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land ein verschiedenes Verhältniß ob. Weder England noch Frankreich grenzen
mit irgend einem Theile ihres Gebiets an das Zarenreich oder dessen Depen-
denzien an. Im Gegentheil sind beide durch ganze Staatenreihen und weit-
gedehnte Meere von demselben geschieden, und so groß ist diese Entlegenheit'
und so evident die russische Inferiorität zur See, daß dieser letzteren Macht
kein Weg irgend welcher Art zu Gebote steht, auf welchem sie, M welcher
Weise es auch immerhin versucht werden möchte, einen offensiven Krieg gegen
die Weststaaten auszuführen im Stande wäre. Das heißt so viel als: in den
Händen Englands und Frankreichs liegt die Initiative deS Krieges; sie
allein sind im Besitz der Möglichkeit des Angriffs und es ist in ihr freies Be¬
lieben gegeben, welche Ausdehnung sie demselben geben wollen.

Je mehr ein Staat sich in solcher Lage beim Kriegsausbruch befindet, wie
die oben bezeichnete, desto freier wird er im Stande sein, die nämliche Politik,
welche im Frieden für ihn maßgebend gewesen, auch unter den Waffen zu ver¬
folgen. Die einzige Frage, um die es sich unter solchen Umständen in Rücksicht -
auf etwaige Variationen in der Staatöleitung handelt, ist die: für welche po¬
litische Zwecke her Krieg geführt werden soll, woraus sich dann der nothwendige
Aufwand an Mitteln ergibt.

In dem vorliegenden Falle sind die Linien, welche die bestimmenden Ver¬
hältnisse umgrenzen, so scharf gezogen, daß es nicht schwer ist, diese selbst zu
definiren. England wie Frankreich haben zwei Ziele vor sich, zwischen denen
sie wählen können. Entweder entscheiden sie sich dafür, die Türkei zu decken,
sei es nun, daß dies durch directen Widerstand auf dem türkischen Gebiet
gegen den russischen Vormarsch auf Konstantinopel, sei es, daß es durch eine
Landung bei Odessa, auf der Krim, in Finnland oder sonst wo geschieht.
Dieses Ziel ist das näher gelegene, leichter zu erreichende und geringere Mittel
in Anspruch nehmende. Das andere ist dies: Nußland in entscheidender Weise
anzugreifen, den Krieg mit der Tendenz nach großen Resultaten zu führen und
schließlich den Zarcnstaat zu schwächen und zu demüthigen. Um diesen Plan
zu realisiren, bedarf es unermeßlicher Kräfte, der ganzen Energie und Macht-
zusammennähme 'beider Nationen.

Daß diese beiden Wege Frankreich und England offen stehen, und daß
sie die einzigen sind, über welche man zu berathschlagen hatte, leuchtet zu klar
ein, als daß eine weitere Erörterung darüber nothwendig wäre. Schwieriger
ist es, zu bestimmen, welche Wahl man alö kalt, getroffen hat, denn eine Ent¬
scheidung ist ohne Zweifel schon darüber gefallen.

Wenn eS erlaubt ist, aus hier gemachten Kriegsvorbereitungen der beiden
Westmächte einen Schluß zu ziehen, so möchte ich mich für die Annahme ent¬
scheiden, daß man vorerst nur die Sicherstellung der Existenz des türkischen
Reiches bezweckt. Es wird nämlich immer klarer, daß die Gesammtmasse des
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/314>, abgerufen am 23.07.2024.