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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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allmälig gebildet, vorliege, sondern als ob der stärkere Wille den schwächern ins
Schlepptau nehme. Und hätte nicht der russische Kaiser in seiner officiellen
Zeitung diese Veröffentlichung von Seiten Englands provocirt, ja sie gradezu
nothwendig gemacht, so hätte wol noch ein Menschenalter vergehen können, ehe
man auch'nnr von der Existenz solcher Verhandlungen etwas erfahren hätte. --

Die zweite Broschüre scheint von der Absicht auszugehen, die muthmaßliche
Politik Oestreichs in der orientalischen Frage zu vertheidigen. Wir sagen muth-
maßlich, denn es dürfte wol nicht viel Menschen in Europa geben, die sich über
das, was Oestreich eigentlich will, eine klare Vorstellung gebildet hätten. Nun
konnte es sür unsre eigne Partei nichts Interessanteres geben, als eine klare und
offene Zusammenstellung der Motive, von denen die Gegner sich bestimmen lassen,
namentlich wenn sie von einem so' geistvollen und in dem Staatsleben so be¬
wanderten Manne ausgeht, als Herr von Ficquelmout. Allein diese Klarheit und
Offenheit ist in der vorliegenden Broschüre nicht zu finden. Die Untersuchung
über das Wesen der orientalischen Kirche im Gegensatz zu der abendländischen
führt zu einer Reihe anziehender Betrachtungen, gegen die man zwar sehr vieles
Erhebliche einwenden könnte, die aber doch an jedem andern Ort zum nachdenke"
anregen würden; nur hier nicht, wo man noch nicht die entfernteste Ahnung davon
gewinnt, was diese ganze Untersuchung mit der vorliegenden politischen Frage zu
thun haben soll. So stellt Herr von Ficquelmont eine ziemlich unhaltbare Pa¬
rallele zwischen dem Protestantismus und dem orientalischen Schisma auf, weil
beide die Trennung der kirchlichen Gewalt von der weltlichen aufgehoben hätten,
eine Ähnlichkeit,' die dadurch wieder ganz wegfällt, daß im Protestantismus die
Scheidung zwischen der Geistlichkeit und dem Laienthum dem Wesen nach wirklich
aufgehoben wurde, im Orient dagegen bestehen blieb. Uebrigens sind einzelne
Deductionen in der That sehr interessant, z. B. über die Bildung der russischen
Nationalreligion, namentlich seit 1812, wo die wunderbare Errettung aus den
Händen eines mächtigen Feindes Rußland als einen von Gott bevorzugten und
prädestinirten Staat in den Angen der Nation erscheinen ließ. Unter dem Ein¬
fluß dieser Stimmung erfolgte die Redaction der russischen Gesetzgebung 1822,
die in einem Geiste abgefaßt ist, "welcher die Katholiken und Protestanten in
confesstoneller Beziehung zu einer absoluten Lähmung verurtheilt, während der
russisch-kirchlichen Proselytenmacherei nicht nur der besondere Schutz der Gesetze
zugesichert, sondern dieselbe anch durch Einräumung weltlicher Vortheile gradezu
aufgemuntert wird." Das alles soll die Möglichkeit erklären, "wie eine dreißig¬
jährige ununterbrochene Wirksamkeit einer derartigen Gesetzgebung jenen Zustand
religiöser Uebersparinung habe erzeugen können, dessen Wirkungen sich vor unsern
Angen entwickeln. Wir haben es hier mit keiner zufälligen, durch eine individuelle
Aufregung hervorgerufenen Gereiztheit zu thun. Diese religiöse Ueberspannung
ist für das russische Volk ein natürlicher, fortwährend andauernder Zustand; sie


allmälig gebildet, vorliege, sondern als ob der stärkere Wille den schwächern ins
Schlepptau nehme. Und hätte nicht der russische Kaiser in seiner officiellen
Zeitung diese Veröffentlichung von Seiten Englands provocirt, ja sie gradezu
nothwendig gemacht, so hätte wol noch ein Menschenalter vergehen können, ehe
man auch'nnr von der Existenz solcher Verhandlungen etwas erfahren hätte. —

Die zweite Broschüre scheint von der Absicht auszugehen, die muthmaßliche
Politik Oestreichs in der orientalischen Frage zu vertheidigen. Wir sagen muth-
maßlich, denn es dürfte wol nicht viel Menschen in Europa geben, die sich über
das, was Oestreich eigentlich will, eine klare Vorstellung gebildet hätten. Nun
konnte es sür unsre eigne Partei nichts Interessanteres geben, als eine klare und
offene Zusammenstellung der Motive, von denen die Gegner sich bestimmen lassen,
namentlich wenn sie von einem so' geistvollen und in dem Staatsleben so be¬
wanderten Manne ausgeht, als Herr von Ficquelmout. Allein diese Klarheit und
Offenheit ist in der vorliegenden Broschüre nicht zu finden. Die Untersuchung
über das Wesen der orientalischen Kirche im Gegensatz zu der abendländischen
führt zu einer Reihe anziehender Betrachtungen, gegen die man zwar sehr vieles
Erhebliche einwenden könnte, die aber doch an jedem andern Ort zum nachdenke»
anregen würden; nur hier nicht, wo man noch nicht die entfernteste Ahnung davon
gewinnt, was diese ganze Untersuchung mit der vorliegenden politischen Frage zu
thun haben soll. So stellt Herr von Ficquelmont eine ziemlich unhaltbare Pa¬
rallele zwischen dem Protestantismus und dem orientalischen Schisma auf, weil
beide die Trennung der kirchlichen Gewalt von der weltlichen aufgehoben hätten,
eine Ähnlichkeit,' die dadurch wieder ganz wegfällt, daß im Protestantismus die
Scheidung zwischen der Geistlichkeit und dem Laienthum dem Wesen nach wirklich
aufgehoben wurde, im Orient dagegen bestehen blieb. Uebrigens sind einzelne
Deductionen in der That sehr interessant, z. B. über die Bildung der russischen
Nationalreligion, namentlich seit 1812, wo die wunderbare Errettung aus den
Händen eines mächtigen Feindes Rußland als einen von Gott bevorzugten und
prädestinirten Staat in den Angen der Nation erscheinen ließ. Unter dem Ein¬
fluß dieser Stimmung erfolgte die Redaction der russischen Gesetzgebung 1822,
die in einem Geiste abgefaßt ist, „welcher die Katholiken und Protestanten in
confesstoneller Beziehung zu einer absoluten Lähmung verurtheilt, während der
russisch-kirchlichen Proselytenmacherei nicht nur der besondere Schutz der Gesetze
zugesichert, sondern dieselbe anch durch Einräumung weltlicher Vortheile gradezu
aufgemuntert wird." Das alles soll die Möglichkeit erklären, „wie eine dreißig¬
jährige ununterbrochene Wirksamkeit einer derartigen Gesetzgebung jenen Zustand
religiöser Uebersparinung habe erzeugen können, dessen Wirkungen sich vor unsern
Angen entwickeln. Wir haben es hier mit keiner zufälligen, durch eine individuelle
Aufregung hervorgerufenen Gereiztheit zu thun. Diese religiöse Ueberspannung
ist für das russische Volk ein natürlicher, fortwährend andauernder Zustand; sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/30>, abgerufen am 23.07.2024.