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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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eigentlich sagen will. Zuerst nimmt er sich nur vor, die indiscrete Frage des
Sultans nach der wahren Religion dadurch abzuwehren, daß er die Wahrheit
derselben von ihrer historischen Begründung abhängig macht und die historische
Begründung von der Zuverlässigkeit der Zeugnisse. Jeder Stamm, sagt er,
glaubt den Dokumenten und Traditionen seiner Vorfahren; welche von diesen
Documenten uun die richtigen und welche die verfälschten sind, darüber kann objectiv ,
nichts entschieden werden, weil, kein Unparteiischer draußen steht, der Einsicht ge<
ung hätte, um das Urtheil zu fällen. In dieser Auffassung lag also, daß eine
von den drei Religionen die richtige sein möge, es wäre nur nicht mit Gewißheit
auszumachen, welche. Soweit wollte Nathan ursprünglich g-ehen, und es genügte
auch vollständig, um die vorausgesetzten schlechten Absichten Saladins zu vereiteln.
Nun aber wird Nathan dnrch die lebhafte Empfänglichkeit und däs ehrliche, schlichte
Gemüth, mit dem mau ihm entgegenkommt, selbst ergriffen und zu schärferem
Nachdenken angeregt -- wir sagen zu schärferem Nachdenken, denn das Resultat,
zu welchem er nun kommt, war ihm selbst vorher noch nicht fertig abgeschlos¬
sen; von der historischen Begründung geht er auf den sittlichen Inhalt der Religion
ein, er findet jetzt das Kriterium der Wahrheit darin, daß sie den ihr Angehörigen
gut und vollkommen machen müsse, und kommt zu dem seiner früheren skeptischen
Auffassung entgegengesetzten Resultate, keine von den. drei Religionen könne die
echte sein, da keine das leiste, was sie leisten soll. Die Theilnahme des Zu¬
hörers wächst, und wie durch einen elektrischen Strom angeregt, eröffnet Nathan
die' ihm selbst zum Theil verborgenen Quellen seines geheimsten Glaubens: es
wird das neue Evangelium kommen! die Religion, die noch nicht vorhanden ist,
> soll der Menschheit einst zu Theil werden. Auch hier ist wieder ein Widerspruch
gegen die vorige Auffassung, denn Nathan hatte den Vater der drei Söhne we¬
gen seiner, vermeintlichen Täuschung dadurch gerechtfertigt, daß er die Erschei¬
nung der absoluten Wahrheit in einer abgeschlossenen Gestalt als eine Beeinträch-,
tigung der freien Individualität auffaßte, sowie der Gott beim babylonischen
Thurmbau die Sprachen verwirrte, um aus der Verschiedenheit eigenthümliches
Leben hervorgehen zu lassen, sowie er den reinen Lichtstrahl fortwährend in indi¬
viduelle Farben bricht. Von dieser Erkenntniß geht die letzte Auffassung ab, in¬
dem sie, wenn auch uur in einer fernen Zukunft, die absolute Erscheinung des
ungebrochenen Lichtes verheißt.

Nathan widerspricht sich also in diesen drei verschiedenen Auffassungen so
direct als möglich, und uur dnrch sophistische Deutelei kann man aus seinen
Ideen, ein abgeschlossenes Lehrgebäude herleiten; aber er widersprich" sich nicht als ,
dramatischer Charakter, uicht als ehrlicher Mann, denn seine Wahrheit ist nicht
etwas von der Seele Abzulösendes, sondern es ist die folgerichtige Bewegung
seiner wahrheitsdurstigen Seele, wie sie sich in der Erregung des Augenblicks
darstellt.


eigentlich sagen will. Zuerst nimmt er sich nur vor, die indiscrete Frage des
Sultans nach der wahren Religion dadurch abzuwehren, daß er die Wahrheit
derselben von ihrer historischen Begründung abhängig macht und die historische
Begründung von der Zuverlässigkeit der Zeugnisse. Jeder Stamm, sagt er,
glaubt den Dokumenten und Traditionen seiner Vorfahren; welche von diesen
Documenten uun die richtigen und welche die verfälschten sind, darüber kann objectiv ,
nichts entschieden werden, weil, kein Unparteiischer draußen steht, der Einsicht ge<
ung hätte, um das Urtheil zu fällen. In dieser Auffassung lag also, daß eine
von den drei Religionen die richtige sein möge, es wäre nur nicht mit Gewißheit
auszumachen, welche. Soweit wollte Nathan ursprünglich g-ehen, und es genügte
auch vollständig, um die vorausgesetzten schlechten Absichten Saladins zu vereiteln.
Nun aber wird Nathan dnrch die lebhafte Empfänglichkeit und däs ehrliche, schlichte
Gemüth, mit dem mau ihm entgegenkommt, selbst ergriffen und zu schärferem
Nachdenken angeregt — wir sagen zu schärferem Nachdenken, denn das Resultat,
zu welchem er nun kommt, war ihm selbst vorher noch nicht fertig abgeschlos¬
sen; von der historischen Begründung geht er auf den sittlichen Inhalt der Religion
ein, er findet jetzt das Kriterium der Wahrheit darin, daß sie den ihr Angehörigen
gut und vollkommen machen müsse, und kommt zu dem seiner früheren skeptischen
Auffassung entgegengesetzten Resultate, keine von den. drei Religionen könne die
echte sein, da keine das leiste, was sie leisten soll. Die Theilnahme des Zu¬
hörers wächst, und wie durch einen elektrischen Strom angeregt, eröffnet Nathan
die' ihm selbst zum Theil verborgenen Quellen seines geheimsten Glaubens: es
wird das neue Evangelium kommen! die Religion, die noch nicht vorhanden ist,
> soll der Menschheit einst zu Theil werden. Auch hier ist wieder ein Widerspruch
gegen die vorige Auffassung, denn Nathan hatte den Vater der drei Söhne we¬
gen seiner, vermeintlichen Täuschung dadurch gerechtfertigt, daß er die Erschei¬
nung der absoluten Wahrheit in einer abgeschlossenen Gestalt als eine Beeinträch-,
tigung der freien Individualität auffaßte, sowie der Gott beim babylonischen
Thurmbau die Sprachen verwirrte, um aus der Verschiedenheit eigenthümliches
Leben hervorgehen zu lassen, sowie er den reinen Lichtstrahl fortwährend in indi¬
viduelle Farben bricht. Von dieser Erkenntniß geht die letzte Auffassung ab, in¬
dem sie, wenn auch uur in einer fernen Zukunft, die absolute Erscheinung des
ungebrochenen Lichtes verheißt.

Nathan widerspricht sich also in diesen drei verschiedenen Auffassungen so
direct als möglich, und uur dnrch sophistische Deutelei kann man aus seinen
Ideen, ein abgeschlossenes Lehrgebäude herleiten; aber er widersprich» sich nicht als ,
dramatischer Charakter, uicht als ehrlicher Mann, denn seine Wahrheit ist nicht
etwas von der Seele Abzulösendes, sondern es ist die folgerichtige Bewegung
seiner wahrheitsdurstigen Seele, wie sie sich in der Erregung des Augenblicks
darstellt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/273>, abgerufen am 22.07.2024.