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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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freut, welches Zartgefühl und welche Schonung selbst hier der tüchtige Mann mit
der vollständigsten Pflichterfüllung verbinden kann.

Nicht geringere Einwirkung als der Präsident üben der Staatsanwalt und
der Vertheidiger auf die Geschworenen aus und sollen dieselben innerhalb des
Rechts ausüben. Aber grade dies ist für die Gegner der Schwurgerichte ein
Hanptstein des Anstoßes: greifen nicht wenigstens die Vertheidiger zu jedem Mit¬
tel, um ihre Talente zu zeigen, um sich dadurch Vertrauen zu erwerben und ihre
Praxis zu erweitern? Ich habe gute und weniger gute Vertheidiger gehört, ich
habe sogar höchst zweckwidrige Vertheidigungsgründe aufstellen hören, aber eine
gewissenlose Vertheidigung ist mir noch nicht vorgekommen. Diese Besorgnis) wird ge¬
wöhnlich ans französische Beispiele begründet; der Unterschied ist aber eben der,
daß unsre deutschen Geschworenen und Anwälte keine Franzosen sind. Trotz dem
Jahre 1848 kann man doch im allgemeinen sagen, daß die hohle Phrase bei den
Deutschen nicht oder doch nur für den ersten Augenblick verfängt; sobald er zur
ruhigen Ueberlegung kommt, und das muß der im Berathungszimmer eingeschlos¬
sene Geschworene, so verfliegt die Phrase spurlos, und zwar haftet und wirkt sie
bei niemandem weniger als bei dem. deutschen Bauer, der jahraus jahrein in und
mit der nackten, faßlichen Wirklichkeit zu leben gewohnt ist. Ich habe sogar als
Obmann die Erfahrung gemacht, daß grade bäuerliche Geschworene mir mit einiger
Mühe sich bewegen ließen, Vertheidigungsgründe, die an das Phrasenhafte anstreif¬
ten, überhaupt in genauere Erwägung zu ziehen. Gleiches dürfte wol von ge¬
haltloser Appellationen an das Mitleid der Geschworenen gelten. Dagegen ist.
nicht zu verschweigen, daß auch der öffentliche Ankläger mitunter die volle Unbe¬
fangenheit der Geschworenen gefährden kann; denn es kommt wol vor, daß sich
namentlich jüngere Staatsanwälte' durch eine recht nachdrückliche Vertheidigung
verleiten lassen, die Anklage mit einer Hartnäckigkeit und in einer Ausdehnung
festzuhalten, welche, wenn sie erfolgreich ist, die Geschworenenen zu einem allzn-
harten, im Gegentheile zu einem allzumildeu Wahrsprüche veranlassen kann.

Mit dem vollsten Rechte haben die Vertheidiger der Schwurgerichte von
jeher hervorgehoben, daß nicht die sorgfältigst geführten Acten, nicht die gewissen¬
haftesten Referate das irgend ersetzen können, was die unmittelbare Anschauung
und Anhörung deö Angeklagten und der Zeugen gewähre. Zeugenaussage", die
schwarz auf weiß das größte Gewicht haben mußten, verflüchtigten sich vor unsrer
Augen zu nichts; andere, die auf den ersten Anblick fast unwesentlich schienen,
gewannen im Verlauf der Verhandlung eingreifende Bedeutung für Schuld oder
Unschuld. Man könnte einwenden, das seien eben subjective Eindrücke und des¬
halb höchst unzulässig; aber war dies nicht früher in weit höherem Grade der
Fall, wo alles dies nur der Untersuchungsrichter und ein Protokollführer sah und
hörte und der Referent es dann erst dem erkennenden Gerichte durch unzureichende
Worte zu beschreiben suchte? Aber wol noch lauter ist hier zu Gunsten der


freut, welches Zartgefühl und welche Schonung selbst hier der tüchtige Mann mit
der vollständigsten Pflichterfüllung verbinden kann.

Nicht geringere Einwirkung als der Präsident üben der Staatsanwalt und
der Vertheidiger auf die Geschworenen aus und sollen dieselben innerhalb des
Rechts ausüben. Aber grade dies ist für die Gegner der Schwurgerichte ein
Hanptstein des Anstoßes: greifen nicht wenigstens die Vertheidiger zu jedem Mit¬
tel, um ihre Talente zu zeigen, um sich dadurch Vertrauen zu erwerben und ihre
Praxis zu erweitern? Ich habe gute und weniger gute Vertheidiger gehört, ich
habe sogar höchst zweckwidrige Vertheidigungsgründe aufstellen hören, aber eine
gewissenlose Vertheidigung ist mir noch nicht vorgekommen. Diese Besorgnis) wird ge¬
wöhnlich ans französische Beispiele begründet; der Unterschied ist aber eben der,
daß unsre deutschen Geschworenen und Anwälte keine Franzosen sind. Trotz dem
Jahre 1848 kann man doch im allgemeinen sagen, daß die hohle Phrase bei den
Deutschen nicht oder doch nur für den ersten Augenblick verfängt; sobald er zur
ruhigen Ueberlegung kommt, und das muß der im Berathungszimmer eingeschlos¬
sene Geschworene, so verfliegt die Phrase spurlos, und zwar haftet und wirkt sie
bei niemandem weniger als bei dem. deutschen Bauer, der jahraus jahrein in und
mit der nackten, faßlichen Wirklichkeit zu leben gewohnt ist. Ich habe sogar als
Obmann die Erfahrung gemacht, daß grade bäuerliche Geschworene mir mit einiger
Mühe sich bewegen ließen, Vertheidigungsgründe, die an das Phrasenhafte anstreif¬
ten, überhaupt in genauere Erwägung zu ziehen. Gleiches dürfte wol von ge¬
haltloser Appellationen an das Mitleid der Geschworenen gelten. Dagegen ist.
nicht zu verschweigen, daß auch der öffentliche Ankläger mitunter die volle Unbe¬
fangenheit der Geschworenen gefährden kann; denn es kommt wol vor, daß sich
namentlich jüngere Staatsanwälte' durch eine recht nachdrückliche Vertheidigung
verleiten lassen, die Anklage mit einer Hartnäckigkeit und in einer Ausdehnung
festzuhalten, welche, wenn sie erfolgreich ist, die Geschworenenen zu einem allzn-
harten, im Gegentheile zu einem allzumildeu Wahrsprüche veranlassen kann.

Mit dem vollsten Rechte haben die Vertheidiger der Schwurgerichte von
jeher hervorgehoben, daß nicht die sorgfältigst geführten Acten, nicht die gewissen¬
haftesten Referate das irgend ersetzen können, was die unmittelbare Anschauung
und Anhörung deö Angeklagten und der Zeugen gewähre. Zeugenaussage», die
schwarz auf weiß das größte Gewicht haben mußten, verflüchtigten sich vor unsrer
Augen zu nichts; andere, die auf den ersten Anblick fast unwesentlich schienen,
gewannen im Verlauf der Verhandlung eingreifende Bedeutung für Schuld oder
Unschuld. Man könnte einwenden, das seien eben subjective Eindrücke und des¬
halb höchst unzulässig; aber war dies nicht früher in weit höherem Grade der
Fall, wo alles dies nur der Untersuchungsrichter und ein Protokollführer sah und
hörte und der Referent es dann erst dem erkennenden Gerichte durch unzureichende
Worte zu beschreiben suchte? Aber wol noch lauter ist hier zu Gunsten der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/260>, abgerufen am 23.07.2024.