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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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stellt er den wunderbaren Grundsatz auf, man könne die richtige Zahl der Summanden
richtig addiren und doch zu einem falschen Resultat kommen. Er deutet darauf
hin, daß in Wagners Natur und in seiner Production noch etwas Dämonisches
liege, jenes Dämonische, welches Goethe so schön schildert, das kein Verstand er¬
setzen könne, das nur als eine freiwillige Gabe der Natur auf der Erde erscheine.
Nun ist in Wagner allerdings ein Etwas, das seine Wirkung thut, ganz abgesehen
von jener energischen und ausdauernden Berechnung der Composition; aber schon
ein Umstand hätte Herrn Hinrichs bedenklich machen sollen, dieses Etwas mit
jenem Dämonischen, von dem Goethe redet, zu verwechseln. Das Dämonische eines
wahren Dichters, z. B. Shakespeares, das der Berechnung spottet und uns auch
wider Willen zum Verständniß zwingt, liegt in jedem einzelnen Theil seiner Com-
position. Es ist die Naturkraft, die allen Stoff lebendig macht, nicht der matte Strahl
eines unfruchtbaren Jenseits, der uns nur durch seinen Gegensatz gegen die Erde
zu imponiren sucht. Jenes Wirkuugsreiche bei Wagner dagegen gehört in den
vieldeutigen Begriff der Romantik; sowol seine Poesie wie seine Musik durchzittert
jenes anspruchsvolle, seltsame, fremdartige Moment, das dem Anschein nach etwas
sehr Spiritualistisches ist, eigentlich aber die gemeine Sinnlichkeit afftcirt. In der
ängstlichen Bemühung, für jenes angeblich Dämonische irgend einen bestimmten
Ausdruck zu senden, kommt Herr Hinrichs nnter anderem auch einmal auf den
Einfall, Wagners Stücke seien dadurch so vortrefflich, daß sie durchaus national
seien. Die Wiederhervorhebung des historischen Costüms, falls dasselbe richtig
getroffen wäre, würde noch nichts Künstlerisch-Nationales enthalten. Gott verhüte,
daß uns einmal der Barditus der alten Cherusker auf der Bühne vorgeführt
werde I Ebensowenig stempelt der Umstand, daß der Lohengrin im Mittelalter
einmal von einem deutscheu Dichter behandelt ist, den Stoff zu einem nationalen.
Die charakteristische Eigenschaft der deutschen Nation beruht vielmehr auf dem
Gemüth, jener Einheit der idealen Anschauung mit dem Gewissen, die man in
dem Grade bei keiner andern Nation antrifft. Was Großes in unserer Poesie
geleistet ist, geht alles aus diesem individuellen Gemüth hervor. In der Fabel
wie in der Composition sind wir heute schwach, aber in dieser energischen Cha¬
rakteristik der Seele haben wir Großes geleistet. In dieser Beziehung gibt es
nichts weniger Nationales, als Wagners Opern-Fabel, Composition, Costüm u. dergl.
ist geschickt genng, aber jene Durchdringung der Handlung durch das Gemüth
und das Gewissen fehlt gänzlich. Die Oper kann das ebenso gut leisten, wie das
Drama , wenn auch in einem geringeren Nahmen: man sehe sich nur den Fidelio
an. Wagners Sittlichkeit aber ist eine transcendente, von dem Gemüth wie von
dem Gewissen vollkommen losgelöste, seine Motive sind überirdisch, seine Personen
bewegen sich auf eine somnambule Weise. Das Alles ist höchst undeutsch, höchst
unprotestantisch; aber es übt eine große Wirkung auf die dunkleren Gebiete der
Phantasie aus. Ganz derselbe Fall ist es mit seiner Musik. Sie ist auf das


stellt er den wunderbaren Grundsatz auf, man könne die richtige Zahl der Summanden
richtig addiren und doch zu einem falschen Resultat kommen. Er deutet darauf
hin, daß in Wagners Natur und in seiner Production noch etwas Dämonisches
liege, jenes Dämonische, welches Goethe so schön schildert, das kein Verstand er¬
setzen könne, das nur als eine freiwillige Gabe der Natur auf der Erde erscheine.
Nun ist in Wagner allerdings ein Etwas, das seine Wirkung thut, ganz abgesehen
von jener energischen und ausdauernden Berechnung der Composition; aber schon
ein Umstand hätte Herrn Hinrichs bedenklich machen sollen, dieses Etwas mit
jenem Dämonischen, von dem Goethe redet, zu verwechseln. Das Dämonische eines
wahren Dichters, z. B. Shakespeares, das der Berechnung spottet und uns auch
wider Willen zum Verständniß zwingt, liegt in jedem einzelnen Theil seiner Com-
position. Es ist die Naturkraft, die allen Stoff lebendig macht, nicht der matte Strahl
eines unfruchtbaren Jenseits, der uns nur durch seinen Gegensatz gegen die Erde
zu imponiren sucht. Jenes Wirkuugsreiche bei Wagner dagegen gehört in den
vieldeutigen Begriff der Romantik; sowol seine Poesie wie seine Musik durchzittert
jenes anspruchsvolle, seltsame, fremdartige Moment, das dem Anschein nach etwas
sehr Spiritualistisches ist, eigentlich aber die gemeine Sinnlichkeit afftcirt. In der
ängstlichen Bemühung, für jenes angeblich Dämonische irgend einen bestimmten
Ausdruck zu senden, kommt Herr Hinrichs nnter anderem auch einmal auf den
Einfall, Wagners Stücke seien dadurch so vortrefflich, daß sie durchaus national
seien. Die Wiederhervorhebung des historischen Costüms, falls dasselbe richtig
getroffen wäre, würde noch nichts Künstlerisch-Nationales enthalten. Gott verhüte,
daß uns einmal der Barditus der alten Cherusker auf der Bühne vorgeführt
werde I Ebensowenig stempelt der Umstand, daß der Lohengrin im Mittelalter
einmal von einem deutscheu Dichter behandelt ist, den Stoff zu einem nationalen.
Die charakteristische Eigenschaft der deutschen Nation beruht vielmehr auf dem
Gemüth, jener Einheit der idealen Anschauung mit dem Gewissen, die man in
dem Grade bei keiner andern Nation antrifft. Was Großes in unserer Poesie
geleistet ist, geht alles aus diesem individuellen Gemüth hervor. In der Fabel
wie in der Composition sind wir heute schwach, aber in dieser energischen Cha¬
rakteristik der Seele haben wir Großes geleistet. In dieser Beziehung gibt es
nichts weniger Nationales, als Wagners Opern-Fabel, Composition, Costüm u. dergl.
ist geschickt genng, aber jene Durchdringung der Handlung durch das Gemüth
und das Gewissen fehlt gänzlich. Die Oper kann das ebenso gut leisten, wie das
Drama , wenn auch in einem geringeren Nahmen: man sehe sich nur den Fidelio
an. Wagners Sittlichkeit aber ist eine transcendente, von dem Gemüth wie von
dem Gewissen vollkommen losgelöste, seine Motive sind überirdisch, seine Personen
bewegen sich auf eine somnambule Weise. Das Alles ist höchst undeutsch, höchst
unprotestantisch; aber es übt eine große Wirkung auf die dunkleren Gebiete der
Phantasie aus. Ganz derselbe Fall ist es mit seiner Musik. Sie ist auf das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/348>, abgerufen am 24.08.2024.