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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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taillirten Charakteren, bei seinen schönsten Strichen die leise Furcht nicht loswer¬
den, es könne dem Dichter plötzlich einfallen, seine Figuren auf den Kopf zu stellen.
Aehnliches thut z. B. der französische Oberst, der frühere Kunstreiter, sehr uner¬
wartet im Walde bei Raum.

So können wir dem Dichter die Berechtigung nicht einräumen, welche er
für ein Werk, das mit Hilfe freier Erfindung eine große Zeit charakterisiren soll,
in Anspruch nimmt. Seine Erzählung ist unvollständig, seine Charaktere sind
weniger detaillirt, zum Theil schattenhaft gehalten, die künstlerische Erfindung hat
sichtlich darunter gelitten, weil seinem patriotischen Herzen wünschenswerth erschien,
die Politik der preußischen Parteien und ihre Gegensätze zur Hauptsache der
Darstellung zu macheu. Da nun aber auch die Schilderung der politischen Kämpfe
und Stimmungen ihrerseits unvollständig und vielfach durch das romanhafte
Element beschränkt und modificirt erscheint, so möchte auch dieser Theil seines
Plans nicht so glücklich ausgeführt sein, als wir, politische Freunde des Verfassers und
Bewunderer seines Talents, wünschen. Es wäre eine große Aufgabe, preußischen
Sinn darzustellen, wie sich dieser in den Einzelnen seit Friedrich dem Großen
entwickelt hat, wie er von schwacher und irregeleiteter Negierung durch viele
Jahre nicht verstanden und falsch behandelt wurde, wie er endlich in den Freiheits- >
kriegen mit unwiderstehlicher Kraft fast gegen den Willen der Negierung durchbrach
und den Staat wiederherstellte, um nach dieser großen Action von neuem be¬
argwohnt, eingeengt und mißverstanden zu werden. Aber die Form des Romans
oder eiuer andern freien künstlerischen Composttion ist für einen solchen Stoff
nicht geeignet, denn die erste Voraussetzung für eine gedeihliche Behandlung des¬
selben ist nicht künstlerische Wahrheit, sondern historische Wahrhaftigkeit. Sehr
ist es zu bedauern, daß Preußen noch keinen Historiker gefunden hat, der es
verstanden hätte, in solcher Weise unparteiisch und mit großem Sinn einen langen
und imponirenden geschichtlichen Verlauf populär zu machen.

Was unterdeß W. Alexis versucht hat, das konnte der Künstlerhand nur
unvollständig gelingen. Vom Standpunkte der Kunst aus mußte um so mehr
auf das Ungenügende und Bedenkliche solcher Darstellung hingewiesen werden, da
nicht im Roman allein, sondern fast in allen andern Künsten, in der Malerei wie in
der Musik, das Bestreben sichtbar wird, die Grenzen zu überschreiten, welche den
einzelnen Künsten durch die Unsterblichen gesteckt sind. Wenn wir aber unserer
Pflicht gemäß den Standpunkt der Kunst gegen den Dichter selbst zu. vertreten
suchte", so wollen wir zum Schluß auch nicht verbergen, daß wir wünschen und
hoffen, sein Werk werde doch recht viele finden, welche sich daran erfreuen und
den treuen Sinn, mit welchem dasselbe rmternommen wurde, zu ehren wissen.




taillirten Charakteren, bei seinen schönsten Strichen die leise Furcht nicht loswer¬
den, es könne dem Dichter plötzlich einfallen, seine Figuren auf den Kopf zu stellen.
Aehnliches thut z. B. der französische Oberst, der frühere Kunstreiter, sehr uner¬
wartet im Walde bei Raum.

So können wir dem Dichter die Berechtigung nicht einräumen, welche er
für ein Werk, das mit Hilfe freier Erfindung eine große Zeit charakterisiren soll,
in Anspruch nimmt. Seine Erzählung ist unvollständig, seine Charaktere sind
weniger detaillirt, zum Theil schattenhaft gehalten, die künstlerische Erfindung hat
sichtlich darunter gelitten, weil seinem patriotischen Herzen wünschenswerth erschien,
die Politik der preußischen Parteien und ihre Gegensätze zur Hauptsache der
Darstellung zu macheu. Da nun aber auch die Schilderung der politischen Kämpfe
und Stimmungen ihrerseits unvollständig und vielfach durch das romanhafte
Element beschränkt und modificirt erscheint, so möchte auch dieser Theil seines
Plans nicht so glücklich ausgeführt sein, als wir, politische Freunde des Verfassers und
Bewunderer seines Talents, wünschen. Es wäre eine große Aufgabe, preußischen
Sinn darzustellen, wie sich dieser in den Einzelnen seit Friedrich dem Großen
entwickelt hat, wie er von schwacher und irregeleiteter Negierung durch viele
Jahre nicht verstanden und falsch behandelt wurde, wie er endlich in den Freiheits- >
kriegen mit unwiderstehlicher Kraft fast gegen den Willen der Negierung durchbrach
und den Staat wiederherstellte, um nach dieser großen Action von neuem be¬
argwohnt, eingeengt und mißverstanden zu werden. Aber die Form des Romans
oder eiuer andern freien künstlerischen Composttion ist für einen solchen Stoff
nicht geeignet, denn die erste Voraussetzung für eine gedeihliche Behandlung des¬
selben ist nicht künstlerische Wahrheit, sondern historische Wahrhaftigkeit. Sehr
ist es zu bedauern, daß Preußen noch keinen Historiker gefunden hat, der es
verstanden hätte, in solcher Weise unparteiisch und mit großem Sinn einen langen
und imponirenden geschichtlichen Verlauf populär zu machen.

Was unterdeß W. Alexis versucht hat, das konnte der Künstlerhand nur
unvollständig gelingen. Vom Standpunkte der Kunst aus mußte um so mehr
auf das Ungenügende und Bedenkliche solcher Darstellung hingewiesen werden, da
nicht im Roman allein, sondern fast in allen andern Künsten, in der Malerei wie in
der Musik, das Bestreben sichtbar wird, die Grenzen zu überschreiten, welche den
einzelnen Künsten durch die Unsterblichen gesteckt sind. Wenn wir aber unserer
Pflicht gemäß den Standpunkt der Kunst gegen den Dichter selbst zu. vertreten
suchte», so wollen wir zum Schluß auch nicht verbergen, daß wir wünschen und
hoffen, sein Werk werde doch recht viele finden, welche sich daran erfreuen und
den treuen Sinn, mit welchem dasselbe rmternommen wurde, zu ehren wissen.




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[0336] taillirten Charakteren, bei seinen schönsten Strichen die leise Furcht nicht loswer¬ den, es könne dem Dichter plötzlich einfallen, seine Figuren auf den Kopf zu stellen. Aehnliches thut z. B. der französische Oberst, der frühere Kunstreiter, sehr uner¬ wartet im Walde bei Raum. So können wir dem Dichter die Berechtigung nicht einräumen, welche er für ein Werk, das mit Hilfe freier Erfindung eine große Zeit charakterisiren soll, in Anspruch nimmt. Seine Erzählung ist unvollständig, seine Charaktere sind weniger detaillirt, zum Theil schattenhaft gehalten, die künstlerische Erfindung hat sichtlich darunter gelitten, weil seinem patriotischen Herzen wünschenswerth erschien, die Politik der preußischen Parteien und ihre Gegensätze zur Hauptsache der Darstellung zu macheu. Da nun aber auch die Schilderung der politischen Kämpfe und Stimmungen ihrerseits unvollständig und vielfach durch das romanhafte Element beschränkt und modificirt erscheint, so möchte auch dieser Theil seines Plans nicht so glücklich ausgeführt sein, als wir, politische Freunde des Verfassers und Bewunderer seines Talents, wünschen. Es wäre eine große Aufgabe, preußischen Sinn darzustellen, wie sich dieser in den Einzelnen seit Friedrich dem Großen entwickelt hat, wie er von schwacher und irregeleiteter Negierung durch viele Jahre nicht verstanden und falsch behandelt wurde, wie er endlich in den Freiheits- > kriegen mit unwiderstehlicher Kraft fast gegen den Willen der Negierung durchbrach und den Staat wiederherstellte, um nach dieser großen Action von neuem be¬ argwohnt, eingeengt und mißverstanden zu werden. Aber die Form des Romans oder eiuer andern freien künstlerischen Composttion ist für einen solchen Stoff nicht geeignet, denn die erste Voraussetzung für eine gedeihliche Behandlung des¬ selben ist nicht künstlerische Wahrheit, sondern historische Wahrhaftigkeit. Sehr ist es zu bedauern, daß Preußen noch keinen Historiker gefunden hat, der es verstanden hätte, in solcher Weise unparteiisch und mit großem Sinn einen langen und imponirenden geschichtlichen Verlauf populär zu machen. Was unterdeß W. Alexis versucht hat, das konnte der Künstlerhand nur unvollständig gelingen. Vom Standpunkte der Kunst aus mußte um so mehr auf das Ungenügende und Bedenkliche solcher Darstellung hingewiesen werden, da nicht im Roman allein, sondern fast in allen andern Künsten, in der Malerei wie in der Musik, das Bestreben sichtbar wird, die Grenzen zu überschreiten, welche den einzelnen Künsten durch die Unsterblichen gesteckt sind. Wenn wir aber unserer Pflicht gemäß den Standpunkt der Kunst gegen den Dichter selbst zu. vertreten suchte», so wollen wir zum Schluß auch nicht verbergen, daß wir wünschen und hoffen, sein Werk werde doch recht viele finden, welche sich daran erfreuen und den treuen Sinn, mit welchem dasselbe rmternommen wurde, zu ehren wissen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/336>, abgerufen am 22.07.2024.