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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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herrscht ein gänzlicher Mangel an Credit. Der durchschnittliche Zinsfuß in der
Türkei und selbst in Serbien ist 20 pCt.; in Albanien wurden Anleihen zu i8 pCt.
geschlossen; auf Hypothek leiht man zu 12 bis 24 pCt.

Wir kommen auf die politischen Zustände der türkischen Slawen. Der
slawische Nationalgeist treibt zur Einigung, zur Gemeinde- und Repräsentativ-
verfassung. Stets hat die slawische Gemeinde sich selbst regiert und ihre Richter
und Steuereinnehmer gewählt. So war es unter den byzantinischen Kaisern und
die Sultane haben diesen Zustand der Dinge beibehalten. Alle von der türkischen
Regierung den Gemeinden auferlegten Lasten, die Truppenaushebungen mit einbe¬
griffen, wurden von den Gemeinden selbst unter sich vertheilt. Die Glieder der
Gemeinde bilden gleichsam eine große Familie, eine brüderliche Gesammtbürger-
schaft. Oft besteht ein griechisch-slawisches Volk aus einer einzigen Familie, welche
sich selbst regiert und mit den Landesbehörden nur mittelst ihres Oberhauptes,
des griechischen Geronten oder slawischen Stareschinen in Beziehung steht.
Dieser Richter oder Vater erhält seine Gewalt durch Wahl und wird in feierlicher
Familicnversammlung, angesichts der angestammten Icones oder Heiligenbilder aus
den Lehnsessel- gesetzt. Man wählt den weisesten und erfahrensten, denn der
Stareschin (der Starosta bet den russischen Slawen) ist berufen, die Geschäfte zu
leiten, die Kasse zu führen, die Gebete zu halten und dem Sultan den Tribut zu
entrichten. Wird der Stareschin unfähig oder zu alt, so erwählt die Familie
einen neuen. Sind mehre Familien nicht mehr zahlreich genug, um einzeln un¬
abhängig leben zu können, so ziehen sie an einen Ort zusammen und schwören
den Zadrega, den Eid, sich gegenseitig zu vertheidigen. Dies ist der Ursprung
aller Gemeinden in Bulgarien. In Serbien dagegen sind die Hütten zer¬
streut, verborgen im Dickicht des Waldes und in den Schluchten der Berge.
Der Stareschin jeder Familie vertheilt an seine Kinder und Geschwister Kleidung
und Nahrung, er tadelt sie, wenn sie Fehler begehen, er fungirt zugleich an hohen
Festen als Priester des häuslichen Herdes und beräuchert mit dem Weihrauchfaß
die Jconostase, den Altar des Schutzheiligen seines Stammes.

Die Grundlage des slawischen Staats- und Gemeindelebens ist die Familie;
nach dieser Patriarchaten Republik ist der ganze Staat geformt. Die Stareschinen
mehrer Dörfer erwählen einen aus ihrer Mitte als Vorsitzer des Gerichts, der
dann den Titel Kues oder Fürst annimmt. Im Umkreise einer großen Hütte
(Koncik) sind zugleich die Tsharnaks der Richter und die kleinen Hütten der
Momken oder Soldaten, welche die Beschlüsse des Fürsten ausführen. Das ge¬
richtliche Urtheil wird auf der Stelle vollzogen, wofern der Verurtheilte nicht an
den Bischof, den Pascha der Provinz, oder, in Serbien, an den Senat der Land¬
schaft appellirt. Neue Steuern kann die Negierung nur mit Genehmigung der General¬
versammlung der Stareschinen ausschreiben. Diese Versammlung ist das Parla¬
ment des Volkes, die treue Hüterin der politischen Selbständigkeit des Volkes.


herrscht ein gänzlicher Mangel an Credit. Der durchschnittliche Zinsfuß in der
Türkei und selbst in Serbien ist 20 pCt.; in Albanien wurden Anleihen zu i8 pCt.
geschlossen; auf Hypothek leiht man zu 12 bis 24 pCt.

Wir kommen auf die politischen Zustände der türkischen Slawen. Der
slawische Nationalgeist treibt zur Einigung, zur Gemeinde- und Repräsentativ-
verfassung. Stets hat die slawische Gemeinde sich selbst regiert und ihre Richter
und Steuereinnehmer gewählt. So war es unter den byzantinischen Kaisern und
die Sultane haben diesen Zustand der Dinge beibehalten. Alle von der türkischen
Regierung den Gemeinden auferlegten Lasten, die Truppenaushebungen mit einbe¬
griffen, wurden von den Gemeinden selbst unter sich vertheilt. Die Glieder der
Gemeinde bilden gleichsam eine große Familie, eine brüderliche Gesammtbürger-
schaft. Oft besteht ein griechisch-slawisches Volk aus einer einzigen Familie, welche
sich selbst regiert und mit den Landesbehörden nur mittelst ihres Oberhauptes,
des griechischen Geronten oder slawischen Stareschinen in Beziehung steht.
Dieser Richter oder Vater erhält seine Gewalt durch Wahl und wird in feierlicher
Familicnversammlung, angesichts der angestammten Icones oder Heiligenbilder aus
den Lehnsessel- gesetzt. Man wählt den weisesten und erfahrensten, denn der
Stareschin (der Starosta bet den russischen Slawen) ist berufen, die Geschäfte zu
leiten, die Kasse zu führen, die Gebete zu halten und dem Sultan den Tribut zu
entrichten. Wird der Stareschin unfähig oder zu alt, so erwählt die Familie
einen neuen. Sind mehre Familien nicht mehr zahlreich genug, um einzeln un¬
abhängig leben zu können, so ziehen sie an einen Ort zusammen und schwören
den Zadrega, den Eid, sich gegenseitig zu vertheidigen. Dies ist der Ursprung
aller Gemeinden in Bulgarien. In Serbien dagegen sind die Hütten zer¬
streut, verborgen im Dickicht des Waldes und in den Schluchten der Berge.
Der Stareschin jeder Familie vertheilt an seine Kinder und Geschwister Kleidung
und Nahrung, er tadelt sie, wenn sie Fehler begehen, er fungirt zugleich an hohen
Festen als Priester des häuslichen Herdes und beräuchert mit dem Weihrauchfaß
die Jconostase, den Altar des Schutzheiligen seines Stammes.

Die Grundlage des slawischen Staats- und Gemeindelebens ist die Familie;
nach dieser Patriarchaten Republik ist der ganze Staat geformt. Die Stareschinen
mehrer Dörfer erwählen einen aus ihrer Mitte als Vorsitzer des Gerichts, der
dann den Titel Kues oder Fürst annimmt. Im Umkreise einer großen Hütte
(Koncik) sind zugleich die Tsharnaks der Richter und die kleinen Hütten der
Momken oder Soldaten, welche die Beschlüsse des Fürsten ausführen. Das ge¬
richtliche Urtheil wird auf der Stelle vollzogen, wofern der Verurtheilte nicht an
den Bischof, den Pascha der Provinz, oder, in Serbien, an den Senat der Land¬
schaft appellirt. Neue Steuern kann die Negierung nur mit Genehmigung der General¬
versammlung der Stareschinen ausschreiben. Diese Versammlung ist das Parla¬
ment des Volkes, die treue Hüterin der politischen Selbständigkeit des Volkes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/316>, abgerufen am 22.07.2024.