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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Künste und Wissenschaften empfinden es schwer. Wie bleierner Nebel lastet es
ans dem Schöpfnngsdrang in beiden und nur langsam vermögen einzelne Be¬
strebungen ihre Blüten zu entfalten. Schüchtern beinahe ranken sich wiedergrünende
Zweige frisch aufathmcnder Poesie im kalten Nebelgrau einer unempfänglicher
Athmosphäre auf. Lust und Gunst für schöne Wissenschaft und Kunst erscheinen
fast nur wie Märzsonnenblicke zwischen dichtgedrängten Schneewolken. Kraft und
Saft scheint noch nicht wieder in vollem Maße zurückgekehrt in das poetische
Geistesleben und vor allem hat die große Welt des vielköpfigen Publicums nicht
Zeit zu dessen Pflege und Liebe.

Am schwersten lastet der Druck der Zeit und ihrer Verstimmung uns dem
Theater. Weiter als vorher Decennien haben die letzten Jahre seinen Verfall
geführt; Verfall in der Theilnahme des Publicums, Verfall in der dramatischen
Production, Verfall in der künstlerischen Darstellung. Von den Jahren social-
Politischer Erregtheit war allerdings nicht zu erwarten, daß in ihnen die
Empfänglichkeit für die Geschlossenheit dramatischer Kunstwerke gedeihe, weder
beim Dichter, noch beim Darsteller, noch beim Publicum. - Dagegen nimmt
sicherlich das dauernde Darniederliegen der dramatischen Production höhern Stils,
ihrer künstlerischen Reproduction und der Empfänglichkeit im Publicum dafür
als bedeutungsvolles Gebrechen des Geistes der Gegenwart eine besondere Ver¬
achtung in Anspruch.

Wo liegt die Ursache? Allerdings in der Zeit. Aber schwerlich zumeist in
den Stimmungen der Massen, d. h. im Publicum des Parterres und der
Galerien. In Frankreich, namentlich in Paris mußte kurz nach der Februar¬
revolution ein großer Theil der Theater aus Maugel an Besuch geschlossen
werden. Man wird sich dieses in der modernen französischen Geschichte unerhörten
Ereignisses erinnern. Ebenso überraschend tritt uns dagegen die Thatsache ent¬
gegen, daß in Deutschland grade das Publicum des Parterres und der Galerien auch
in den Zeiten der größten Aufregung dem Theater nicht ganz entsagte; die kleinen
unständigen Bühnen, welche den ersten Sturm überdauerte", haben in den politisch
bewegten Zeiten sogar meistens gute Geschäfte gemacht. Dagegen leerten sich
Mit 1848 sofort die ersten Range und Logen. Und sie haben sich bis heute
noch nirgends wieder regelmäßig in früherem Maße gefüllt, ausgenommen diejenigen
Restdenztheater, wo ihr Besuch eine modificirte Aufwartung bei Hofe ist. Wie
sehr dies häufig der Fall, erkennt man am besten daraus, daß die Logen leer,
oder von Hofmeistern, Gouvernanten und zurückgekommenen Verwandten besetzt
sind, sowie mit Gewißheit niemand von der regierenden Familie zu erwarten
steht. Dagegen füllen sich in andern Theatern diese Range dann ausschließlich,
wenn irgend ein Prophet, eine Pepita oder ein tgi. modisches Bühueuereiguiß über
die Breter schreiten will. Am spärlichsten sind durchschnittlich in den Mitteltheatern
ti>! Vertreter der "höhern Bildung" zu entdecken, wenn jene ihre besten Kräfte


Künste und Wissenschaften empfinden es schwer. Wie bleierner Nebel lastet es
ans dem Schöpfnngsdrang in beiden und nur langsam vermögen einzelne Be¬
strebungen ihre Blüten zu entfalten. Schüchtern beinahe ranken sich wiedergrünende
Zweige frisch aufathmcnder Poesie im kalten Nebelgrau einer unempfänglicher
Athmosphäre auf. Lust und Gunst für schöne Wissenschaft und Kunst erscheinen
fast nur wie Märzsonnenblicke zwischen dichtgedrängten Schneewolken. Kraft und
Saft scheint noch nicht wieder in vollem Maße zurückgekehrt in das poetische
Geistesleben und vor allem hat die große Welt des vielköpfigen Publicums nicht
Zeit zu dessen Pflege und Liebe.

Am schwersten lastet der Druck der Zeit und ihrer Verstimmung uns dem
Theater. Weiter als vorher Decennien haben die letzten Jahre seinen Verfall
geführt; Verfall in der Theilnahme des Publicums, Verfall in der dramatischen
Production, Verfall in der künstlerischen Darstellung. Von den Jahren social-
Politischer Erregtheit war allerdings nicht zu erwarten, daß in ihnen die
Empfänglichkeit für die Geschlossenheit dramatischer Kunstwerke gedeihe, weder
beim Dichter, noch beim Darsteller, noch beim Publicum. - Dagegen nimmt
sicherlich das dauernde Darniederliegen der dramatischen Production höhern Stils,
ihrer künstlerischen Reproduction und der Empfänglichkeit im Publicum dafür
als bedeutungsvolles Gebrechen des Geistes der Gegenwart eine besondere Ver¬
achtung in Anspruch.

Wo liegt die Ursache? Allerdings in der Zeit. Aber schwerlich zumeist in
den Stimmungen der Massen, d. h. im Publicum des Parterres und der
Galerien. In Frankreich, namentlich in Paris mußte kurz nach der Februar¬
revolution ein großer Theil der Theater aus Maugel an Besuch geschlossen
werden. Man wird sich dieses in der modernen französischen Geschichte unerhörten
Ereignisses erinnern. Ebenso überraschend tritt uns dagegen die Thatsache ent¬
gegen, daß in Deutschland grade das Publicum des Parterres und der Galerien auch
in den Zeiten der größten Aufregung dem Theater nicht ganz entsagte; die kleinen
unständigen Bühnen, welche den ersten Sturm überdauerte», haben in den politisch
bewegten Zeiten sogar meistens gute Geschäfte gemacht. Dagegen leerten sich
Mit 1848 sofort die ersten Range und Logen. Und sie haben sich bis heute
noch nirgends wieder regelmäßig in früherem Maße gefüllt, ausgenommen diejenigen
Restdenztheater, wo ihr Besuch eine modificirte Aufwartung bei Hofe ist. Wie
sehr dies häufig der Fall, erkennt man am besten daraus, daß die Logen leer,
oder von Hofmeistern, Gouvernanten und zurückgekommenen Verwandten besetzt
sind, sowie mit Gewißheit niemand von der regierenden Familie zu erwarten
steht. Dagegen füllen sich in andern Theatern diese Range dann ausschließlich,
wenn irgend ein Prophet, eine Pepita oder ein tgi. modisches Bühueuereiguiß über
die Breter schreiten will. Am spärlichsten sind durchschnittlich in den Mitteltheatern
ti>! Vertreter der „höhern Bildung" zu entdecken, wenn jene ihre besten Kräfte


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[0263] Künste und Wissenschaften empfinden es schwer. Wie bleierner Nebel lastet es ans dem Schöpfnngsdrang in beiden und nur langsam vermögen einzelne Be¬ strebungen ihre Blüten zu entfalten. Schüchtern beinahe ranken sich wiedergrünende Zweige frisch aufathmcnder Poesie im kalten Nebelgrau einer unempfänglicher Athmosphäre auf. Lust und Gunst für schöne Wissenschaft und Kunst erscheinen fast nur wie Märzsonnenblicke zwischen dichtgedrängten Schneewolken. Kraft und Saft scheint noch nicht wieder in vollem Maße zurückgekehrt in das poetische Geistesleben und vor allem hat die große Welt des vielköpfigen Publicums nicht Zeit zu dessen Pflege und Liebe. Am schwersten lastet der Druck der Zeit und ihrer Verstimmung uns dem Theater. Weiter als vorher Decennien haben die letzten Jahre seinen Verfall geführt; Verfall in der Theilnahme des Publicums, Verfall in der dramatischen Production, Verfall in der künstlerischen Darstellung. Von den Jahren social- Politischer Erregtheit war allerdings nicht zu erwarten, daß in ihnen die Empfänglichkeit für die Geschlossenheit dramatischer Kunstwerke gedeihe, weder beim Dichter, noch beim Darsteller, noch beim Publicum. - Dagegen nimmt sicherlich das dauernde Darniederliegen der dramatischen Production höhern Stils, ihrer künstlerischen Reproduction und der Empfänglichkeit im Publicum dafür als bedeutungsvolles Gebrechen des Geistes der Gegenwart eine besondere Ver¬ achtung in Anspruch. Wo liegt die Ursache? Allerdings in der Zeit. Aber schwerlich zumeist in den Stimmungen der Massen, d. h. im Publicum des Parterres und der Galerien. In Frankreich, namentlich in Paris mußte kurz nach der Februar¬ revolution ein großer Theil der Theater aus Maugel an Besuch geschlossen werden. Man wird sich dieses in der modernen französischen Geschichte unerhörten Ereignisses erinnern. Ebenso überraschend tritt uns dagegen die Thatsache ent¬ gegen, daß in Deutschland grade das Publicum des Parterres und der Galerien auch in den Zeiten der größten Aufregung dem Theater nicht ganz entsagte; die kleinen unständigen Bühnen, welche den ersten Sturm überdauerte», haben in den politisch bewegten Zeiten sogar meistens gute Geschäfte gemacht. Dagegen leerten sich Mit 1848 sofort die ersten Range und Logen. Und sie haben sich bis heute noch nirgends wieder regelmäßig in früherem Maße gefüllt, ausgenommen diejenigen Restdenztheater, wo ihr Besuch eine modificirte Aufwartung bei Hofe ist. Wie sehr dies häufig der Fall, erkennt man am besten daraus, daß die Logen leer, oder von Hofmeistern, Gouvernanten und zurückgekommenen Verwandten besetzt sind, sowie mit Gewißheit niemand von der regierenden Familie zu erwarten steht. Dagegen füllen sich in andern Theatern diese Range dann ausschließlich, wenn irgend ein Prophet, eine Pepita oder ein tgi. modisches Bühueuereiguiß über die Breter schreiten will. Am spärlichsten sind durchschnittlich in den Mitteltheatern ti>! Vertreter der „höhern Bildung" zu entdecken, wenn jene ihre besten Kräfte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/263>, abgerufen am 25.08.2024.