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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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nehmen, ergreifen gleichmäßig jedes Gemüth. Es ist mit der Wissenschaft nicht
anders, als mit der Kunst. Die absolute Trennung der Wissenden von den
Nichtwissenden, der Forschung von der Darstellung ist ebensowenig durchzuführen,
und wäre, wenn durchführbar, ebenso verwerflich, als die Trennung der künst¬
lerischen Braminen von der Masse des Volks. Auch der Gelehrte kommt erst
dnrch den Reflex seiner Darstellung zur Anschauung von dem wirklichen Gehalt
seiner Forschung. Am augenscheinlichsten ist das bei der Geschichte, und eine
ganze Reihe von Hilfswissenschaften haben doch nur insofern einen Sinn, als sie
der Geschichte, d. h. der Darstellung dienen. Die gegenwärtige Monographie,
die nicht mit wirklich geschichtlichen Thatsachen, sondern nur mit Zuständen zu
thun hat, kann allerdings nur von demjenigen verstanden werden, der sich des
Gesammtgebiets, auf welches sie sich bezieht, bemächtigt hat. Aber dieser Uebel-
stand liegt lediglich in dem Stoff, und wir können uns schon aus dieser Be¬
handlung davon überzeugen, daß Mommsen künstlerische Gestaltungskraft genug
besitzt, um den Anblick von den Höhen, die zu ersteigen freilich eine seltene Kraft
gehört, in unmittelbarer Lebendigkeit wiederzugeben. Mommsen hat die beiden
Eigenschaften, die für die Geschichtschreibung gleich nothwendig sind, die sich aber
häufig ausschließe", wenigstens beschränken, in gleich hohem Grade, nämlich den
freien Sinn für die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens und den sittliche" Ernst,
der auch in dieser Mannigfaltigkeit den ewigen Gedanken nie aus dem Auge läßt.
Sein sittliches Gefühl trübt nicht die Unbefangenheit seines Anges, und sein
empfänglicher Sinn schwächt nicht die Macht seines sittlichen Zorns. Es lebt in
ihm eine gewaltige Leidenschaft für das Gute und Rechte, die das Böse bis zur
Vernichtung verfolgt, jene Leidenschaft, die i" unserer Zeit so selten ist, wo man
es höchst arrogant findet, wenn man blos die Weisheit verehrt und nicht anch
die Thorheit, wen" man blos Gott eine" Altar aufrichtet und nicht anch dem
Teufel, wen" ma" i" der Ueberzeugung von de" mathematischen Wahrheiten nicht
auch diejenigen tolerirt, die das Gegentheil meinen. In diesem Zeitalter abge¬
schwächter Ueberzeugungen und schönthueüder, bequemer Subjectivität ist "fue
Männlich ernste Erscheinung, wie die unseres Gelehrten, ein wahrer Trost.
Man darf aber diese" sittlichen Ernst nicht mit jenem Gepolter einer fixe" Idee
verwechseln, der irgend ein bestimmtes einzelnes Bild deö Guten vorschwebt und
die dasselbe als Maßstab an alle concreten Erscheinungen legt, ohne sich die Mühe
zu geben, vorher ihre Natur unbefangen zu untersuchen. Vor dieser schulmeister¬
lichen Moralität, die nur ein anderer Ausdruck von der Gefnhlsschwäche
unseres Zeitalters ist, bewahrt Mommsen seine reiche und tiefe Bildung.
Er entdeckt überall das bleibende Wesen hinter dem Wechsel der Erscheinungen
und wir befinden uns bei seinen Darstellungen in beständiger Gegenwart, aber
keineswegs in jener schlechten Manier mancher andere" Geschichtschreiber, welche
die Darstellung älterer Zeiten nur dazu benutzen, auf die Gegenwart satirische


Grenzboten. I. -lööi. 32

nehmen, ergreifen gleichmäßig jedes Gemüth. Es ist mit der Wissenschaft nicht
anders, als mit der Kunst. Die absolute Trennung der Wissenden von den
Nichtwissenden, der Forschung von der Darstellung ist ebensowenig durchzuführen,
und wäre, wenn durchführbar, ebenso verwerflich, als die Trennung der künst¬
lerischen Braminen von der Masse des Volks. Auch der Gelehrte kommt erst
dnrch den Reflex seiner Darstellung zur Anschauung von dem wirklichen Gehalt
seiner Forschung. Am augenscheinlichsten ist das bei der Geschichte, und eine
ganze Reihe von Hilfswissenschaften haben doch nur insofern einen Sinn, als sie
der Geschichte, d. h. der Darstellung dienen. Die gegenwärtige Monographie,
die nicht mit wirklich geschichtlichen Thatsachen, sondern nur mit Zuständen zu
thun hat, kann allerdings nur von demjenigen verstanden werden, der sich des
Gesammtgebiets, auf welches sie sich bezieht, bemächtigt hat. Aber dieser Uebel-
stand liegt lediglich in dem Stoff, und wir können uns schon aus dieser Be¬
handlung davon überzeugen, daß Mommsen künstlerische Gestaltungskraft genug
besitzt, um den Anblick von den Höhen, die zu ersteigen freilich eine seltene Kraft
gehört, in unmittelbarer Lebendigkeit wiederzugeben. Mommsen hat die beiden
Eigenschaften, die für die Geschichtschreibung gleich nothwendig sind, die sich aber
häufig ausschließe», wenigstens beschränken, in gleich hohem Grade, nämlich den
freien Sinn für die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens und den sittliche» Ernst,
der auch in dieser Mannigfaltigkeit den ewigen Gedanken nie aus dem Auge läßt.
Sein sittliches Gefühl trübt nicht die Unbefangenheit seines Anges, und sein
empfänglicher Sinn schwächt nicht die Macht seines sittlichen Zorns. Es lebt in
ihm eine gewaltige Leidenschaft für das Gute und Rechte, die das Böse bis zur
Vernichtung verfolgt, jene Leidenschaft, die i» unserer Zeit so selten ist, wo man
es höchst arrogant findet, wenn man blos die Weisheit verehrt und nicht anch
die Thorheit, wen» man blos Gott eine» Altar aufrichtet und nicht anch dem
Teufel, wen» ma» i» der Ueberzeugung von de» mathematischen Wahrheiten nicht
auch diejenigen tolerirt, die das Gegentheil meinen. In diesem Zeitalter abge¬
schwächter Ueberzeugungen und schönthueüder, bequemer Subjectivität ist «fue
Männlich ernste Erscheinung, wie die unseres Gelehrten, ein wahrer Trost.
Man darf aber diese» sittlichen Ernst nicht mit jenem Gepolter einer fixe» Idee
verwechseln, der irgend ein bestimmtes einzelnes Bild deö Guten vorschwebt und
die dasselbe als Maßstab an alle concreten Erscheinungen legt, ohne sich die Mühe
zu geben, vorher ihre Natur unbefangen zu untersuchen. Vor dieser schulmeister¬
lichen Moralität, die nur ein anderer Ausdruck von der Gefnhlsschwäche
unseres Zeitalters ist, bewahrt Mommsen seine reiche und tiefe Bildung.
Er entdeckt überall das bleibende Wesen hinter dem Wechsel der Erscheinungen
und wir befinden uns bei seinen Darstellungen in beständiger Gegenwart, aber
keineswegs in jener schlechten Manier mancher andere» Geschichtschreiber, welche
die Darstellung älterer Zeiten nur dazu benutzen, auf die Gegenwart satirische


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[0257] nehmen, ergreifen gleichmäßig jedes Gemüth. Es ist mit der Wissenschaft nicht anders, als mit der Kunst. Die absolute Trennung der Wissenden von den Nichtwissenden, der Forschung von der Darstellung ist ebensowenig durchzuführen, und wäre, wenn durchführbar, ebenso verwerflich, als die Trennung der künst¬ lerischen Braminen von der Masse des Volks. Auch der Gelehrte kommt erst dnrch den Reflex seiner Darstellung zur Anschauung von dem wirklichen Gehalt seiner Forschung. Am augenscheinlichsten ist das bei der Geschichte, und eine ganze Reihe von Hilfswissenschaften haben doch nur insofern einen Sinn, als sie der Geschichte, d. h. der Darstellung dienen. Die gegenwärtige Monographie, die nicht mit wirklich geschichtlichen Thatsachen, sondern nur mit Zuständen zu thun hat, kann allerdings nur von demjenigen verstanden werden, der sich des Gesammtgebiets, auf welches sie sich bezieht, bemächtigt hat. Aber dieser Uebel- stand liegt lediglich in dem Stoff, und wir können uns schon aus dieser Be¬ handlung davon überzeugen, daß Mommsen künstlerische Gestaltungskraft genug besitzt, um den Anblick von den Höhen, die zu ersteigen freilich eine seltene Kraft gehört, in unmittelbarer Lebendigkeit wiederzugeben. Mommsen hat die beiden Eigenschaften, die für die Geschichtschreibung gleich nothwendig sind, die sich aber häufig ausschließe», wenigstens beschränken, in gleich hohem Grade, nämlich den freien Sinn für die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens und den sittliche» Ernst, der auch in dieser Mannigfaltigkeit den ewigen Gedanken nie aus dem Auge läßt. Sein sittliches Gefühl trübt nicht die Unbefangenheit seines Anges, und sein empfänglicher Sinn schwächt nicht die Macht seines sittlichen Zorns. Es lebt in ihm eine gewaltige Leidenschaft für das Gute und Rechte, die das Böse bis zur Vernichtung verfolgt, jene Leidenschaft, die i» unserer Zeit so selten ist, wo man es höchst arrogant findet, wenn man blos die Weisheit verehrt und nicht anch die Thorheit, wen» man blos Gott eine» Altar aufrichtet und nicht anch dem Teufel, wen» ma» i» der Ueberzeugung von de» mathematischen Wahrheiten nicht auch diejenigen tolerirt, die das Gegentheil meinen. In diesem Zeitalter abge¬ schwächter Ueberzeugungen und schönthueüder, bequemer Subjectivität ist «fue Männlich ernste Erscheinung, wie die unseres Gelehrten, ein wahrer Trost. Man darf aber diese» sittlichen Ernst nicht mit jenem Gepolter einer fixe» Idee verwechseln, der irgend ein bestimmtes einzelnes Bild deö Guten vorschwebt und die dasselbe als Maßstab an alle concreten Erscheinungen legt, ohne sich die Mühe zu geben, vorher ihre Natur unbefangen zu untersuchen. Vor dieser schulmeister¬ lichen Moralität, die nur ein anderer Ausdruck von der Gefnhlsschwäche unseres Zeitalters ist, bewahrt Mommsen seine reiche und tiefe Bildung. Er entdeckt überall das bleibende Wesen hinter dem Wechsel der Erscheinungen und wir befinden uns bei seinen Darstellungen in beständiger Gegenwart, aber keineswegs in jener schlechten Manier mancher andere» Geschichtschreiber, welche die Darstellung älterer Zeiten nur dazu benutzen, auf die Gegenwart satirische Grenzboten. I. -lööi. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/257>, abgerufen am 22.07.2024.