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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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als seine eigene Reflexion der Handlung vorausschicken, und treibt dadurch die
Phantasie des Zuhörers aus ihrer Unbefangenheit, indem er sie zum Nachdenken
zwingt. Der Roman hat in dieser Beziehung eine viel größere Freiheit als das
Epos, indem er eine Masse kleiner Züge, in denen die Seelenbewegung in das
Reich der Erscheinung tritt, zusammenhäufen und dadurch die Reflexion vermeiden
kann: eine Detailmalerei, die vom Epos schon durch die rhythmische Form aus?
geschlossen wird. -- Auf einen dritten Unterschied, daß die kritische Ausgabe des
Epos in der eigentlichen Katastrophe liegt, während sie im Drama in die Mitte
der Handlung, in die Umkehr des Hauptcharakters fällt, ist in diesen Blättern
bereits hingewiesen worden. Man wird leicht einsehen, wie auch dieser Umstand
mit dem leitenden Gesichtspunkt zusammenhängt. -- Wir gehen jetzt auf das
Einzelne ein, auf,den Stoff, ans die Komposition, die Zeichnung und die Färbung
des epischen Gedichts.

Was den Stoff betrifft, so ist es für das Romantische Epos charakteristisch,
daß die Nothwendigkeit einer Wahl vorliegt. In dem naiven, dem eigentlich
epischen Zeitalter ist sowol die darzustellende Begebenheit, wie auch das Costüm
derselben dem Dichter in der Volkssage unmittelbar gegenwärtig. Allein auch
hier wird der romantische Dichter, wenn er sein Publicum richtig versteht, durch
Reflexion zu dem zurückkehren, was dem naiven Dichter natürlich ist. Da die
Darstellung vou Zuständen in den Vordergrund tritt, so wird das Publicum
natürlich an der Darstellung solcher Zustände das meiste Interesse finden, zu
denen es in irgend einer gemüthlichen Beziehung steht. Die Darstellung einer
großen geschichtlichen Vergangenheit der Nation, in bestimmte einzelne Bilder
krystallisirt, wird der günstigste Vorwurf des Epos sein. Auch darin hat
Walter Scott seine Einsicht in das Wesen der Poesie bekundet. Nur ist der
Unterschied gegen den Roman festzuhalten. Die rhythmische Form verlangt
einen idealen, einen poetischen Gehalt.. Eine Darstellung conventioneller Zeit¬
alter also, d. h. solcher Zeitalter, in denen wir die Sitte als etwas Gemachtes,
Willkürliches und daher als den Gegensatz des Ideals empfinden, und die uns
doch geschichtlich so nahe steht, daß wir uns dieser Detaillirung nicht erwehren
können, gehört nicht ins Epos, und Schiller hat vollkommen recht gethan, seinen
Plan, den siebenjährigen Krieg episch zu behandeln, wieder aufzugeben. -- Wir
müssen noch hinzufügen, daß der nationale Gehalt eines Epos zwar der zweck¬
mäßigste, aber für unsere Zeit nicht der natürlichste ist. Der Dichter kommt viel
eher darauf, uns in recht fremdartige, wo möglich tropische Zustände zu führen,
um für seine Phantasie freien Spielraum zu haben und un.s durch den Reiz deS
Contrastes zu fesseln. So hat sich schon Byron dem Orient zugewandt, so
haben wir in unsern neuern Dichtungen Tscherkessen, Türken, Russe", Perser,
Jndier u. f. w. in bunter Fülle durcheinander. Wer wollte dem Dichter das.Recht
dazu versagen? Nur muß man dabei bedenken, daß für die Zukunft des Gedichts,


als seine eigene Reflexion der Handlung vorausschicken, und treibt dadurch die
Phantasie des Zuhörers aus ihrer Unbefangenheit, indem er sie zum Nachdenken
zwingt. Der Roman hat in dieser Beziehung eine viel größere Freiheit als das
Epos, indem er eine Masse kleiner Züge, in denen die Seelenbewegung in das
Reich der Erscheinung tritt, zusammenhäufen und dadurch die Reflexion vermeiden
kann: eine Detailmalerei, die vom Epos schon durch die rhythmische Form aus?
geschlossen wird. — Auf einen dritten Unterschied, daß die kritische Ausgabe des
Epos in der eigentlichen Katastrophe liegt, während sie im Drama in die Mitte
der Handlung, in die Umkehr des Hauptcharakters fällt, ist in diesen Blättern
bereits hingewiesen worden. Man wird leicht einsehen, wie auch dieser Umstand
mit dem leitenden Gesichtspunkt zusammenhängt. — Wir gehen jetzt auf das
Einzelne ein, auf,den Stoff, ans die Komposition, die Zeichnung und die Färbung
des epischen Gedichts.

Was den Stoff betrifft, so ist es für das Romantische Epos charakteristisch,
daß die Nothwendigkeit einer Wahl vorliegt. In dem naiven, dem eigentlich
epischen Zeitalter ist sowol die darzustellende Begebenheit, wie auch das Costüm
derselben dem Dichter in der Volkssage unmittelbar gegenwärtig. Allein auch
hier wird der romantische Dichter, wenn er sein Publicum richtig versteht, durch
Reflexion zu dem zurückkehren, was dem naiven Dichter natürlich ist. Da die
Darstellung vou Zuständen in den Vordergrund tritt, so wird das Publicum
natürlich an der Darstellung solcher Zustände das meiste Interesse finden, zu
denen es in irgend einer gemüthlichen Beziehung steht. Die Darstellung einer
großen geschichtlichen Vergangenheit der Nation, in bestimmte einzelne Bilder
krystallisirt, wird der günstigste Vorwurf des Epos sein. Auch darin hat
Walter Scott seine Einsicht in das Wesen der Poesie bekundet. Nur ist der
Unterschied gegen den Roman festzuhalten. Die rhythmische Form verlangt
einen idealen, einen poetischen Gehalt.. Eine Darstellung conventioneller Zeit¬
alter also, d. h. solcher Zeitalter, in denen wir die Sitte als etwas Gemachtes,
Willkürliches und daher als den Gegensatz des Ideals empfinden, und die uns
doch geschichtlich so nahe steht, daß wir uns dieser Detaillirung nicht erwehren
können, gehört nicht ins Epos, und Schiller hat vollkommen recht gethan, seinen
Plan, den siebenjährigen Krieg episch zu behandeln, wieder aufzugeben. — Wir
müssen noch hinzufügen, daß der nationale Gehalt eines Epos zwar der zweck¬
mäßigste, aber für unsere Zeit nicht der natürlichste ist. Der Dichter kommt viel
eher darauf, uns in recht fremdartige, wo möglich tropische Zustände zu führen,
um für seine Phantasie freien Spielraum zu haben und un.s durch den Reiz deS
Contrastes zu fesseln. So hat sich schon Byron dem Orient zugewandt, so
haben wir in unsern neuern Dichtungen Tscherkessen, Türken, Russe», Perser,
Jndier u. f. w. in bunter Fülle durcheinander. Wer wollte dem Dichter das.Recht
dazu versagen? Nur muß man dabei bedenken, daß für die Zukunft des Gedichts,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/21>, abgerufen am 22.07.2024.