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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Imagination einen zu freien Spielraum läßt, And von den überlieferten That¬
sachen ohne ernsthafte und wohlerwogene Kritik der Quellen diejenigen aus¬
wählt, die ihm als die unterhaltendsten erscheinen, tritt bei seinem neuen Bei¬
trage zur Revolutionsgeschichte weniger hervor. Die Zeit der Girondisten ist
verhältnismäßig eine dunkle, in welcher die Aufregung der Leidenschaften eine
unbefangene Auffassung der Thatsachen fast unmöglich machte. Hier bleiben
also viele Räthsel und die geschäftige Phantasie hat alle mögliche Freiheit,
in der Erforschung der geheimen Motive, der psychologischen Erregungen, der
Intriguen und Verschwörungen ihre Thätigkeit zu entwickeln. Es war
eine wilde Zeit, reich an wirklichen Ungeheuerlichkeiten und daher wohl an¬
gethan, noch Schrecklicheres im Verborgenen vermuthen zu lassen. Die Zeit
von 1789 hatte einen andern Charakter; wie hoch auch bereits unter allen
Ständen die Aufregung gestiegen war, sie hatte doch den Sinn für die Wirk¬
lichkeit noch nicht ertödtet. Wer sich an den Parteiungen betheiligte, mußte
sich einen denkbaren Zweck vorsetzen, mußte die Glut seiner Begeisterung
wenigstens soweit mäßigen, daß sie dem Gemeingefühl verständlich blieb, weil
er ohne dieses auf keine Wirkung hoffen konnte. Darum sind wir auch im
ganzen über diese Zeit sehr wohl unterrichtet und wenn man etwas Räthsel-
Haftes in ihr finden will, muß man es erst hineinlegen. Damals hatten die
Politiker noch Muße und Besonnenheit genug, auf ihre Verhältnisse zu andern
ein stetiges Augenmerk zu richten, ihre Korrespondenz zu ordnen, eine gewisse
Folgerichtigkeit in den Bewegungen und in ihrer Theilnahme, an denselben zu
erstreben: eine Folgerichtigkeit, an die im Taumel der spätern Jahre niemand
mehr denken wollte. Diese Phase der Revolution ist daher überreich an
Quellen, und die subjective Färbung späterer Memoiren wird vollkommen durch
.die gleichzeitigen Documente corrigirt.

Eine solche. Periode setzt der schöpferischen Phantasie eines Schrift¬
stellers, auch wenn er ein Dichter ist, ganz andere Schranken, als eine Periode
trüber Gährung wie das Jahr 1793. Wenn man also, der Geschichte der
Girondisten von Lamartine mit weit größerem Rechte, als es Goethe gethan,
die Bezeichnung Wahrheit und Dichtung geben könnte, so würde ein solcher
Vorwurf die Geschichte der constituirenden Versammlung nicht treffen. Der
Stoff derselben ist wirklich historisch; und. wenn man ihr einen Vorwurf machen
kann, so ist es nicht der leichtsinniger Erfindung, sondern ungeschickter Grup-
pirung und Verarbeitung.. Herr v. Lamartine hat ziemlich viel,Quellen benutzt,
vor allem aber den Moniteur und die Correspondenz Mirabeaus. Diese sind
nun aber so reichhaltig, daß die Hauptaufgabe des Geschichtschreibers sein muß,
die charakteristischen Momente so prägnant als möglich hervorzuheben, um dem
Leser für das Uebermaß an Thatsachen, das er sich anderweitig mit leichter
Mühe zugänglich machen kann, einen Leitfaden an die Hand zu geben. DaS


Grenzboten. IV. ->8si. 8

Imagination einen zu freien Spielraum läßt, And von den überlieferten That¬
sachen ohne ernsthafte und wohlerwogene Kritik der Quellen diejenigen aus¬
wählt, die ihm als die unterhaltendsten erscheinen, tritt bei seinem neuen Bei¬
trage zur Revolutionsgeschichte weniger hervor. Die Zeit der Girondisten ist
verhältnismäßig eine dunkle, in welcher die Aufregung der Leidenschaften eine
unbefangene Auffassung der Thatsachen fast unmöglich machte. Hier bleiben
also viele Räthsel und die geschäftige Phantasie hat alle mögliche Freiheit,
in der Erforschung der geheimen Motive, der psychologischen Erregungen, der
Intriguen und Verschwörungen ihre Thätigkeit zu entwickeln. Es war
eine wilde Zeit, reich an wirklichen Ungeheuerlichkeiten und daher wohl an¬
gethan, noch Schrecklicheres im Verborgenen vermuthen zu lassen. Die Zeit
von 1789 hatte einen andern Charakter; wie hoch auch bereits unter allen
Ständen die Aufregung gestiegen war, sie hatte doch den Sinn für die Wirk¬
lichkeit noch nicht ertödtet. Wer sich an den Parteiungen betheiligte, mußte
sich einen denkbaren Zweck vorsetzen, mußte die Glut seiner Begeisterung
wenigstens soweit mäßigen, daß sie dem Gemeingefühl verständlich blieb, weil
er ohne dieses auf keine Wirkung hoffen konnte. Darum sind wir auch im
ganzen über diese Zeit sehr wohl unterrichtet und wenn man etwas Räthsel-
Haftes in ihr finden will, muß man es erst hineinlegen. Damals hatten die
Politiker noch Muße und Besonnenheit genug, auf ihre Verhältnisse zu andern
ein stetiges Augenmerk zu richten, ihre Korrespondenz zu ordnen, eine gewisse
Folgerichtigkeit in den Bewegungen und in ihrer Theilnahme, an denselben zu
erstreben: eine Folgerichtigkeit, an die im Taumel der spätern Jahre niemand
mehr denken wollte. Diese Phase der Revolution ist daher überreich an
Quellen, und die subjective Färbung späterer Memoiren wird vollkommen durch
.die gleichzeitigen Documente corrigirt.

Eine solche. Periode setzt der schöpferischen Phantasie eines Schrift¬
stellers, auch wenn er ein Dichter ist, ganz andere Schranken, als eine Periode
trüber Gährung wie das Jahr 1793. Wenn man also, der Geschichte der
Girondisten von Lamartine mit weit größerem Rechte, als es Goethe gethan,
die Bezeichnung Wahrheit und Dichtung geben könnte, so würde ein solcher
Vorwurf die Geschichte der constituirenden Versammlung nicht treffen. Der
Stoff derselben ist wirklich historisch; und. wenn man ihr einen Vorwurf machen
kann, so ist es nicht der leichtsinniger Erfindung, sondern ungeschickter Grup-
pirung und Verarbeitung.. Herr v. Lamartine hat ziemlich viel,Quellen benutzt,
vor allem aber den Moniteur und die Correspondenz Mirabeaus. Diese sind
nun aber so reichhaltig, daß die Hauptaufgabe des Geschichtschreibers sein muß,
die charakteristischen Momente so prägnant als möglich hervorzuheben, um dem
Leser für das Uebermaß an Thatsachen, das er sich anderweitig mit leichter
Mühe zugänglich machen kann, einen Leitfaden an die Hand zu geben. DaS


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/65>, abgerufen am 24.08.2024.