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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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lesen, was die armen Leute im Lager vor dem Feinde zu ertragen haben:
Frost und Durst, Nachtarbeiten in thandurchtränkten Kleidern, Nachtwachen
unter freiem Himmel, Krankheiten aller Art, Feindesangriffe von allen Seiten.
Und wenn, wie ich heute in einem Provinzblatte las, ein Offizier an seine
Frau scherzend schreibt, sie möge seinetwegen ganz unbesorgt sein, er habe so
ein Stück Zelt und befinde sich höchst comfortabel in einem Erdloche 400 Yards
vor der ersten Linie der feindlichen Batterien; er habe es zu Hause nie besser
gehabt--glauben Sie, daß dieser brave Humor einem das Herz erleich¬
tern kann? -- Mir gegenüber wohnt eine Majvrsfrau, eine blonde, schlanke,
durchsichtige Dame. Ihr Mann ist offenbar in der Krim. Seit vierzehn Tagen
sitzt sie mit ihrer Arbeit oder einem Buche von früh bis Abend am Fenster,
und liest nicht und strickt nicht, sondern stiert vor sich hin. Gefallen ist ihr
Mann nicht, denn sie trägt keine Trauer; aber schaurige Ahnungen mögen
vielleicht durch ihr Gemüth ziehen. Einmal, vorgestern, als ich aus meiner
Hausthür sah, klopfte an der ihrigen grade der Briefträger. Unwillkürlich
sah ich zum Fenster hinauf. Sie fuhr wie ein getroffenes Reh vom Sitze auf.
Der Postbotenthürschlag muß ihr durchs Herz gegangen sein. Arme Frau!
Ihr Mann lebt, denn sie saß gestern wieder am Fenster und arbeitete wirklich.
Aber die vielen andern Mütter, Väter, Töchter -- -- Das Menschengewühl
auf den Straßen, das größer ist, als sonst um diese Jahreszeit, wird gewisser¬
maßen unheimlich. Unwillkürlich mahnts einen an das kleine zusammenge¬
schmolzene Häuflein, das sich dort aus dem kahlen Gestein vor Sebastopol in
übermenschlicher Arbeit aufreibt, um nicht vom Feinde aufgerieben zu werden.

Diese Londoner Atmosphäre drückt wie Blei auf allen Köpfen. Alles
strömt vom Lande herein, um an der Quelle der Neuigkeiten zu sitzen. Häu¬
ser, die es sonst für eine Sünde gegen die gute Lebensart gehalten hätten,
im Monat November eine bewohnte Physiognomie zur Schau zu tragen, sind
jetzt bevölkert. Es ist ein Zauberbann in diesem London. Man kann nicht
hinaus. Es ist beengend hier. Und draußen auf dem Lande muß es uner¬
träglich sein. Man freut sich und leidet am besten mit wenigen Herzensfreun¬
den; aber die Folterqual des Wartens erträgt sich vielleicht noch am leichteste"
inmitten von anderthalb Millionen Menschen, die mit uns warten- In
Deutschland, ich glaub es gern, horcht man gleichfalls mit Spannung auf
Berichte vom Kriegsschauplatz hin. Es ist kein Geheimniß, welcher Partei
die heißen Siegeswünsche der Besseren im Volke gelten, aber ihr habt noch
immer diplomatische Noten zu lesen, ihr habt noch keine blasse Majorin gegen¬
über, die aus den Briefträger wartet. Das Schicksal scheint nicht gelaunt,
euch diese unmittelbaren Aufregungen zu erlassen. Früher- oder später. Da
es schon ein siebenjähriger Krieg werden soll, müßt ihr mit dabei sein. Ein
siebenjähriger Krieg ohne Deutschland wäre schon im dritten Jahre zu Ende.


lesen, was die armen Leute im Lager vor dem Feinde zu ertragen haben:
Frost und Durst, Nachtarbeiten in thandurchtränkten Kleidern, Nachtwachen
unter freiem Himmel, Krankheiten aller Art, Feindesangriffe von allen Seiten.
Und wenn, wie ich heute in einem Provinzblatte las, ein Offizier an seine
Frau scherzend schreibt, sie möge seinetwegen ganz unbesorgt sein, er habe so
ein Stück Zelt und befinde sich höchst comfortabel in einem Erdloche 400 Yards
vor der ersten Linie der feindlichen Batterien; er habe es zu Hause nie besser
gehabt--glauben Sie, daß dieser brave Humor einem das Herz erleich¬
tern kann? — Mir gegenüber wohnt eine Majvrsfrau, eine blonde, schlanke,
durchsichtige Dame. Ihr Mann ist offenbar in der Krim. Seit vierzehn Tagen
sitzt sie mit ihrer Arbeit oder einem Buche von früh bis Abend am Fenster,
und liest nicht und strickt nicht, sondern stiert vor sich hin. Gefallen ist ihr
Mann nicht, denn sie trägt keine Trauer; aber schaurige Ahnungen mögen
vielleicht durch ihr Gemüth ziehen. Einmal, vorgestern, als ich aus meiner
Hausthür sah, klopfte an der ihrigen grade der Briefträger. Unwillkürlich
sah ich zum Fenster hinauf. Sie fuhr wie ein getroffenes Reh vom Sitze auf.
Der Postbotenthürschlag muß ihr durchs Herz gegangen sein. Arme Frau!
Ihr Mann lebt, denn sie saß gestern wieder am Fenster und arbeitete wirklich.
Aber die vielen andern Mütter, Väter, Töchter — — Das Menschengewühl
auf den Straßen, das größer ist, als sonst um diese Jahreszeit, wird gewisser¬
maßen unheimlich. Unwillkürlich mahnts einen an das kleine zusammenge¬
schmolzene Häuflein, das sich dort aus dem kahlen Gestein vor Sebastopol in
übermenschlicher Arbeit aufreibt, um nicht vom Feinde aufgerieben zu werden.

Diese Londoner Atmosphäre drückt wie Blei auf allen Köpfen. Alles
strömt vom Lande herein, um an der Quelle der Neuigkeiten zu sitzen. Häu¬
ser, die es sonst für eine Sünde gegen die gute Lebensart gehalten hätten,
im Monat November eine bewohnte Physiognomie zur Schau zu tragen, sind
jetzt bevölkert. Es ist ein Zauberbann in diesem London. Man kann nicht
hinaus. Es ist beengend hier. Und draußen auf dem Lande muß es uner¬
träglich sein. Man freut sich und leidet am besten mit wenigen Herzensfreun¬
den; aber die Folterqual des Wartens erträgt sich vielleicht noch am leichteste»
inmitten von anderthalb Millionen Menschen, die mit uns warten- In
Deutschland, ich glaub es gern, horcht man gleichfalls mit Spannung auf
Berichte vom Kriegsschauplatz hin. Es ist kein Geheimniß, welcher Partei
die heißen Siegeswünsche der Besseren im Volke gelten, aber ihr habt noch
immer diplomatische Noten zu lesen, ihr habt noch keine blasse Majorin gegen¬
über, die aus den Briefträger wartet. Das Schicksal scheint nicht gelaunt,
euch diese unmittelbaren Aufregungen zu erlassen. Früher- oder später. Da
es schon ein siebenjähriger Krieg werden soll, müßt ihr mit dabei sein. Ein
siebenjähriger Krieg ohne Deutschland wäre schon im dritten Jahre zu Ende.


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[0399] lesen, was die armen Leute im Lager vor dem Feinde zu ertragen haben: Frost und Durst, Nachtarbeiten in thandurchtränkten Kleidern, Nachtwachen unter freiem Himmel, Krankheiten aller Art, Feindesangriffe von allen Seiten. Und wenn, wie ich heute in einem Provinzblatte las, ein Offizier an seine Frau scherzend schreibt, sie möge seinetwegen ganz unbesorgt sein, er habe so ein Stück Zelt und befinde sich höchst comfortabel in einem Erdloche 400 Yards vor der ersten Linie der feindlichen Batterien; er habe es zu Hause nie besser gehabt--glauben Sie, daß dieser brave Humor einem das Herz erleich¬ tern kann? — Mir gegenüber wohnt eine Majvrsfrau, eine blonde, schlanke, durchsichtige Dame. Ihr Mann ist offenbar in der Krim. Seit vierzehn Tagen sitzt sie mit ihrer Arbeit oder einem Buche von früh bis Abend am Fenster, und liest nicht und strickt nicht, sondern stiert vor sich hin. Gefallen ist ihr Mann nicht, denn sie trägt keine Trauer; aber schaurige Ahnungen mögen vielleicht durch ihr Gemüth ziehen. Einmal, vorgestern, als ich aus meiner Hausthür sah, klopfte an der ihrigen grade der Briefträger. Unwillkürlich sah ich zum Fenster hinauf. Sie fuhr wie ein getroffenes Reh vom Sitze auf. Der Postbotenthürschlag muß ihr durchs Herz gegangen sein. Arme Frau! Ihr Mann lebt, denn sie saß gestern wieder am Fenster und arbeitete wirklich. Aber die vielen andern Mütter, Väter, Töchter — — Das Menschengewühl auf den Straßen, das größer ist, als sonst um diese Jahreszeit, wird gewisser¬ maßen unheimlich. Unwillkürlich mahnts einen an das kleine zusammenge¬ schmolzene Häuflein, das sich dort aus dem kahlen Gestein vor Sebastopol in übermenschlicher Arbeit aufreibt, um nicht vom Feinde aufgerieben zu werden. Diese Londoner Atmosphäre drückt wie Blei auf allen Köpfen. Alles strömt vom Lande herein, um an der Quelle der Neuigkeiten zu sitzen. Häu¬ ser, die es sonst für eine Sünde gegen die gute Lebensart gehalten hätten, im Monat November eine bewohnte Physiognomie zur Schau zu tragen, sind jetzt bevölkert. Es ist ein Zauberbann in diesem London. Man kann nicht hinaus. Es ist beengend hier. Und draußen auf dem Lande muß es uner¬ träglich sein. Man freut sich und leidet am besten mit wenigen Herzensfreun¬ den; aber die Folterqual des Wartens erträgt sich vielleicht noch am leichteste» inmitten von anderthalb Millionen Menschen, die mit uns warten- In Deutschland, ich glaub es gern, horcht man gleichfalls mit Spannung auf Berichte vom Kriegsschauplatz hin. Es ist kein Geheimniß, welcher Partei die heißen Siegeswünsche der Besseren im Volke gelten, aber ihr habt noch immer diplomatische Noten zu lesen, ihr habt noch keine blasse Majorin gegen¬ über, die aus den Briefträger wartet. Das Schicksal scheint nicht gelaunt, euch diese unmittelbaren Aufregungen zu erlassen. Früher- oder später. Da es schon ein siebenjähriger Krieg werden soll, müßt ihr mit dabei sein. Ein siebenjähriger Krieg ohne Deutschland wäre schon im dritten Jahre zu Ende.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/399>, abgerufen am 22.07.2024.