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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Charakter seines Helden und seinem eignen eine Scheidelinie zu ziehen versucht.
Denn zuweilen spricht er in seiner eignen Person, und dann sind seine Em¬
pfindungen und Reflexionen durchaus von denen seines Helden nicht ver¬
schieden. In dieser subjektiven Darstellung kann das Interesse des Romans
nicht gesucht werden, denn in dieser Beziehung können wir bei Byron aus
einer ursprünglichem und viel bedeutenderen Quelle schöpfen: aber im höchsten
Grade anziehend und belehrend ist die eingewebte Darstellung der russischen
Sitten. Freilich hat die Aristokratie der ganzen gebildeten Welt etwas sehr
Verwandtes, aber der russischen ist es doch gelungen, manche Eigenthümlichkeiten
festzuhalten, und dies zeigt sich grade am meisten in der Art und Weise,
wie die Nachäffung des Französischen getrieben wird. Die Censur hat zwar
sehr viel gestrichen, aber daß ihr doch manches entgangen ist, zeigen die beiden
folgenden Stellen. Zuerst eine Schilderung der Salons:


Langweilig, schwatzhaft sind die Leute;
Dumm, abgeschmackt, was man erzählt;
Ja, selbst in der Verleumdung fehlt
Der Witz; in allem ist man peinlich
Und kalt von 'Herzen und Gesicht,
Und geistreich selbst durch Zufall nicht.
O große Welt, wie farblos, kleinlich,
Wie ernsthaft flach und hohl du bist.
Wo Dummheit selbst nicht komisch ist!

Wenn sich diese Stelle noch außerhalb der politischen Sphäre zu bewegen
und daher ungefährlich zu sein scheint, so kann man das von der folgenden
wol kaum behaupten:


In dieser Welt voll Thoren, Lassen,
Verkäuflicher Gerechtigkeit,
In Uniform gefleckter Affen,
Auswürfe jeder Schlechtigkeit,
Spione, frömmelnder Koketten,
Und Sklaven, stolz auf ihre Ketten!
In dieser Welt der Heuchelei/
Des Lugs und Trugs, der Kriecherei,
Verschmitztheit, Rohheit, Alltagsleerc,
Klatschsucht, Verleumdung, Unnatur, --
In diesem Tugendgrab, wo nur
Das Laster kommt zu Ruhm und Ehre, --
In diesem Sumpf, in welchem wir
Uns, Freunde, alle baden hier!

Wir empfehlen diese und ähnliche SteAen dem Philosophen von Char¬
lottenburg, der in der Urkraft und Naturwüchsigkeit des russischen Volks die
dereinstige Erlösung des sündhaftigen Menschengeschlechts zu erkennen glaubt. --


Charakter seines Helden und seinem eignen eine Scheidelinie zu ziehen versucht.
Denn zuweilen spricht er in seiner eignen Person, und dann sind seine Em¬
pfindungen und Reflexionen durchaus von denen seines Helden nicht ver¬
schieden. In dieser subjektiven Darstellung kann das Interesse des Romans
nicht gesucht werden, denn in dieser Beziehung können wir bei Byron aus
einer ursprünglichem und viel bedeutenderen Quelle schöpfen: aber im höchsten
Grade anziehend und belehrend ist die eingewebte Darstellung der russischen
Sitten. Freilich hat die Aristokratie der ganzen gebildeten Welt etwas sehr
Verwandtes, aber der russischen ist es doch gelungen, manche Eigenthümlichkeiten
festzuhalten, und dies zeigt sich grade am meisten in der Art und Weise,
wie die Nachäffung des Französischen getrieben wird. Die Censur hat zwar
sehr viel gestrichen, aber daß ihr doch manches entgangen ist, zeigen die beiden
folgenden Stellen. Zuerst eine Schilderung der Salons:


Langweilig, schwatzhaft sind die Leute;
Dumm, abgeschmackt, was man erzählt;
Ja, selbst in der Verleumdung fehlt
Der Witz; in allem ist man peinlich
Und kalt von 'Herzen und Gesicht,
Und geistreich selbst durch Zufall nicht.
O große Welt, wie farblos, kleinlich,
Wie ernsthaft flach und hohl du bist.
Wo Dummheit selbst nicht komisch ist!

Wenn sich diese Stelle noch außerhalb der politischen Sphäre zu bewegen
und daher ungefährlich zu sein scheint, so kann man das von der folgenden
wol kaum behaupten:


In dieser Welt voll Thoren, Lassen,
Verkäuflicher Gerechtigkeit,
In Uniform gefleckter Affen,
Auswürfe jeder Schlechtigkeit,
Spione, frömmelnder Koketten,
Und Sklaven, stolz auf ihre Ketten!
In dieser Welt der Heuchelei/
Des Lugs und Trugs, der Kriecherei,
Verschmitztheit, Rohheit, Alltagsleerc,
Klatschsucht, Verleumdung, Unnatur, —
In diesem Tugendgrab, wo nur
Das Laster kommt zu Ruhm und Ehre, —
In diesem Sumpf, in welchem wir
Uns, Freunde, alle baden hier!

Wir empfehlen diese und ähnliche SteAen dem Philosophen von Char¬
lottenburg, der in der Urkraft und Naturwüchsigkeit des russischen Volks die
dereinstige Erlösung des sündhaftigen Menschengeschlechts zu erkennen glaubt. —


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[0037] Charakter seines Helden und seinem eignen eine Scheidelinie zu ziehen versucht. Denn zuweilen spricht er in seiner eignen Person, und dann sind seine Em¬ pfindungen und Reflexionen durchaus von denen seines Helden nicht ver¬ schieden. In dieser subjektiven Darstellung kann das Interesse des Romans nicht gesucht werden, denn in dieser Beziehung können wir bei Byron aus einer ursprünglichem und viel bedeutenderen Quelle schöpfen: aber im höchsten Grade anziehend und belehrend ist die eingewebte Darstellung der russischen Sitten. Freilich hat die Aristokratie der ganzen gebildeten Welt etwas sehr Verwandtes, aber der russischen ist es doch gelungen, manche Eigenthümlichkeiten festzuhalten, und dies zeigt sich grade am meisten in der Art und Weise, wie die Nachäffung des Französischen getrieben wird. Die Censur hat zwar sehr viel gestrichen, aber daß ihr doch manches entgangen ist, zeigen die beiden folgenden Stellen. Zuerst eine Schilderung der Salons: Langweilig, schwatzhaft sind die Leute; Dumm, abgeschmackt, was man erzählt; Ja, selbst in der Verleumdung fehlt Der Witz; in allem ist man peinlich Und kalt von 'Herzen und Gesicht, Und geistreich selbst durch Zufall nicht. O große Welt, wie farblos, kleinlich, Wie ernsthaft flach und hohl du bist. Wo Dummheit selbst nicht komisch ist! Wenn sich diese Stelle noch außerhalb der politischen Sphäre zu bewegen und daher ungefährlich zu sein scheint, so kann man das von der folgenden wol kaum behaupten: In dieser Welt voll Thoren, Lassen, Verkäuflicher Gerechtigkeit, In Uniform gefleckter Affen, Auswürfe jeder Schlechtigkeit, Spione, frömmelnder Koketten, Und Sklaven, stolz auf ihre Ketten! In dieser Welt der Heuchelei/ Des Lugs und Trugs, der Kriecherei, Verschmitztheit, Rohheit, Alltagsleerc, Klatschsucht, Verleumdung, Unnatur, — In diesem Tugendgrab, wo nur Das Laster kommt zu Ruhm und Ehre, — In diesem Sumpf, in welchem wir Uns, Freunde, alle baden hier! Wir empfehlen diese und ähnliche SteAen dem Philosophen von Char¬ lottenburg, der in der Urkraft und Naturwüchsigkeit des russischen Volks die dereinstige Erlösung des sündhaftigen Menschengeschlechts zu erkennen glaubt. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/37>, abgerufen am 22.07.2024.