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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Krisis die ertremen Parteien die mächtigste Einwirkung ausüben, weil sie der
größten Leidenschaft fähig sind. Diese Einwirkung dauert nur eine kurze Zeit
und wird augenblicklich aufgehoben, sobald das natürliche Gefühl und die un¬
befangene Beobachtung der Thatsachen wieder Raum gewinnt. Eine historische
Darstellung der Geschichte der neuern Zeit vom Standpunkt einer ertremen
Partei, etwa des Radicalismus oder der Kreuzzeitung, würde nirgend Anklang
finden; vielleicht nicht einmal bei den Angehörigen derselben Partei, weil die
Thatsachen sehr bald dazu führen, den Leidenschaften zu widersprechen.

Der Verfasser der vorliegenden Schrift gehört dem gemäßigten Liberalis¬
mus an, gewiß derjenigen Partei, die bei der Darstellung der neuen Zeit die
meiste Aussicht auf Anerkennung hat. Denn, daß in dem Ausgang der großen
Bewegung, die mit 18-13 begann, viele gerechte Anforderungen und Wünsche
unbefriedigt geblieben sind, dieser Ueberzeugung wird sich selbst derjenige nicht
entschlagen können, der in dem leidenschaftlichen Ausdruck jener Anforderungen
und Wünsche eine unstatthafte Auflehnung gegen das Bestehende steht.

Nun hat seit jener Zeit der'Liberalismus seine Kenntniß nach manchen Seiten
hin erweitert und demgemäß seine Ueberzeugung berichtigt. In den dreißiger,
Jahren sah man in jeder Opposition gegen die Gewalthaber, namentlich in den
Ländern, wo die Unwürdigkeit der Regierung augenscheinlich war, einen Fortschritt
zum Bessern. Jetzt hat man sich daran gewöhnt, nur diejenige Opposition für
gerechtfertigt zu halten, die mit einer gewissen Naturkraft, die produktiv eintritt.
Denn regiert müssen die Staaten werden, und zum Sturz der bestehenden Ne¬
gierung beizutragen hat nur derjenige das Recht, der eine neue zu bilden im
Stande ist. Außerdem ist in unsern Tagen der locale Gesichtspunkt durch den
europäischen verdrängt worden. Früher folgte man bei der Beurtheilung der
Thatsachen dem Jnstinct, der Sympathie oder Antipathie; jetzt fragt man nach
her Bedeutung, die ein localer Erfolg für die allgemeine europäische Entwick-
lung haben kann. Man läßt sich z. B. durch einzelne heroische Züge der
Polen nicht mehr bestimmen, ose weiteres aus ihre Seite zu treten und man
sieht in dem Aufstand der Griechen nicht mehr blos den natürlichen Freiheits¬
trieb, nicht mehr blos das religiöse Gefühl, sondern ebenso auch die russische
Intrigue.

Ganz sind in dem vorliegenden Werk diese wechselndem Gesichtspunkte nicht
zur Ausgleichung gekommen. So würden wir nach der jetzt herrschenden Auf¬
fassung der allgemeinen Verhältnisse die orientalischen Händel der zwanziger
Jahre wol anders darstellen, als es hier geschehen ist. Indeß bei einer Ge¬
schichte der neuesten Zeit ist so etwas überhaupt schwer zu vermeiden. Es ist
eigentlich immer ein Urtheilsspruch vor dem Schluß der Acten, und kann daher
nur eine vorläufige Geltung in Anspruch nehmen. Wenn man es nur ver¬
meidet, durch Leidenschaftlichkeit oder blinden Autoritätsglauben sich in die


Krisis die ertremen Parteien die mächtigste Einwirkung ausüben, weil sie der
größten Leidenschaft fähig sind. Diese Einwirkung dauert nur eine kurze Zeit
und wird augenblicklich aufgehoben, sobald das natürliche Gefühl und die un¬
befangene Beobachtung der Thatsachen wieder Raum gewinnt. Eine historische
Darstellung der Geschichte der neuern Zeit vom Standpunkt einer ertremen
Partei, etwa des Radicalismus oder der Kreuzzeitung, würde nirgend Anklang
finden; vielleicht nicht einmal bei den Angehörigen derselben Partei, weil die
Thatsachen sehr bald dazu führen, den Leidenschaften zu widersprechen.

Der Verfasser der vorliegenden Schrift gehört dem gemäßigten Liberalis¬
mus an, gewiß derjenigen Partei, die bei der Darstellung der neuen Zeit die
meiste Aussicht auf Anerkennung hat. Denn, daß in dem Ausgang der großen
Bewegung, die mit 18-13 begann, viele gerechte Anforderungen und Wünsche
unbefriedigt geblieben sind, dieser Ueberzeugung wird sich selbst derjenige nicht
entschlagen können, der in dem leidenschaftlichen Ausdruck jener Anforderungen
und Wünsche eine unstatthafte Auflehnung gegen das Bestehende steht.

Nun hat seit jener Zeit der'Liberalismus seine Kenntniß nach manchen Seiten
hin erweitert und demgemäß seine Ueberzeugung berichtigt. In den dreißiger,
Jahren sah man in jeder Opposition gegen die Gewalthaber, namentlich in den
Ländern, wo die Unwürdigkeit der Regierung augenscheinlich war, einen Fortschritt
zum Bessern. Jetzt hat man sich daran gewöhnt, nur diejenige Opposition für
gerechtfertigt zu halten, die mit einer gewissen Naturkraft, die produktiv eintritt.
Denn regiert müssen die Staaten werden, und zum Sturz der bestehenden Ne¬
gierung beizutragen hat nur derjenige das Recht, der eine neue zu bilden im
Stande ist. Außerdem ist in unsern Tagen der locale Gesichtspunkt durch den
europäischen verdrängt worden. Früher folgte man bei der Beurtheilung der
Thatsachen dem Jnstinct, der Sympathie oder Antipathie; jetzt fragt man nach
her Bedeutung, die ein localer Erfolg für die allgemeine europäische Entwick-
lung haben kann. Man läßt sich z. B. durch einzelne heroische Züge der
Polen nicht mehr bestimmen, ose weiteres aus ihre Seite zu treten und man
sieht in dem Aufstand der Griechen nicht mehr blos den natürlichen Freiheits¬
trieb, nicht mehr blos das religiöse Gefühl, sondern ebenso auch die russische
Intrigue.

Ganz sind in dem vorliegenden Werk diese wechselndem Gesichtspunkte nicht
zur Ausgleichung gekommen. So würden wir nach der jetzt herrschenden Auf¬
fassung der allgemeinen Verhältnisse die orientalischen Händel der zwanziger
Jahre wol anders darstellen, als es hier geschehen ist. Indeß bei einer Ge¬
schichte der neuesten Zeit ist so etwas überhaupt schwer zu vermeiden. Es ist
eigentlich immer ein Urtheilsspruch vor dem Schluß der Acten, und kann daher
nur eine vorläufige Geltung in Anspruch nehmen. Wenn man es nur ver¬
meidet, durch Leidenschaftlichkeit oder blinden Autoritätsglauben sich in die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/24>, abgerufen am 29.12.2024.