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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Oestreich Partei nimmt, stellt sich zuweilen die Sache gar zu sanguinisch vor,
als ob sich die Staatsmänner in Downingsstreet und in den Tuilerien aus den
verhärteten Egoisten, die sie bisher waren, plötzlich in Seraphim und Cherubim
verwandelt hätten, die nur für das Interesse der Menschheit schwärmten. Na¬
poleon lit. hat die Geschichte seines Oheims sehr gründlich studirt und weiß
ganz genau, wie es im Frieden von Tilsit zugegangen ist.

Ueber die Mittel aber, gegen Preußen und Rußland zugleich zu Felde zu
ziehen, kann kein Zweifel obwalten. Wer etwa noch nicht klar darüber sein
sollte, der lese das Schriftchen: "Schreiben an den Kaiser der Fran¬
zosen in Betreff der orientalischen Frage. Aus dem Französischen. Leipzig,
Nemmelmann." Wenn auch Herr von Persigny im gegenwärtigen Augenblick
keine officielle Stellung bekleidet, so drückt er doch ein sehr wesentliches Mo¬
ment im System des Napoleonismus aus; ein Moment, welches sich ohne
Zweifel Geltung verschaffen wird, sobald sich die bisherigen Voraussetzungen
als trügerisch erweisen.

Noch nach einer andern Seite hin dürften die Voraussetzungen Preußens
irrig sein; nämlich in Beziehung aus das Verhältniß der beiden Großmächte
zum deutschen Bund. Die (officielle) Leipziger Zeitung bringt darüber in ihrer
neuesten Nummer eine ziemlich weitläufige Auseinandersetzung, deren Schluß-
folgerungen wir 'aber nicht verstehen. Der Versasser stellt es als unangemessen
dar, wenn man auf dem Bundestage in Beziehung auf die orientalische Frage
dahin streben wollte, eine Majorität hervorzubringen; es müsse vielmehr so ein¬
gerichtet werden, daß allen verschiedenen Interessen der deutschen Mächte Rech¬
nung getragen werde. Nun sind wir damit zwar insofern einverstanden, daß
wir es für nothwendig halten, alle die verschiedenen Interessen zu Rathe zu
ziehen, aber zuletzt muß doch ein Ende gefunden werden. Daß dies nicht in
der Weise eines Majoritätsbeschlusses, wo die deutschen Fürsten nach der Kopf¬
zahl abstimmen, geschehen kann, versteht sich von selbst.' Aber irgendein Mittel
muß doch die Bundesversammlung kennen, einen definitiven Beschluß auch
über die auswärtige Politik zu Stande zu bringen.

Denn wenn das nicht der Fall wäre, so bliebe nichts Anderes übrig, als
das, was die preußische Negierung schon lange vorgeschlagen, wogegen sich
aber die sächsische Regierung mit großer Lebhaftigkeit ausgesprochen hat, näm¬
lich das Princip des freien Bündnisses, oder anders ausgedrückt, der ni" in
Parkes. Dies Princip würde aber für den Fall eines Krieges nichts Anderes
heißen, als Auflösung der Bundesverfassung, Rheinbund u. s. w.

Auch diesen schrecklichen Fall, der aber doch unzweifelhaft im Gebiet der
Möglichkeit liegt, muß sich die preußische Regierung sorgfältig überlegen. Ist,
in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß die Mehrzahl der deutschen
' Fürsten zu Preußen hält? -- Wir sagen mit Bestimmtheit Nein.


Oestreich Partei nimmt, stellt sich zuweilen die Sache gar zu sanguinisch vor,
als ob sich die Staatsmänner in Downingsstreet und in den Tuilerien aus den
verhärteten Egoisten, die sie bisher waren, plötzlich in Seraphim und Cherubim
verwandelt hätten, die nur für das Interesse der Menschheit schwärmten. Na¬
poleon lit. hat die Geschichte seines Oheims sehr gründlich studirt und weiß
ganz genau, wie es im Frieden von Tilsit zugegangen ist.

Ueber die Mittel aber, gegen Preußen und Rußland zugleich zu Felde zu
ziehen, kann kein Zweifel obwalten. Wer etwa noch nicht klar darüber sein
sollte, der lese das Schriftchen: „Schreiben an den Kaiser der Fran¬
zosen in Betreff der orientalischen Frage. Aus dem Französischen. Leipzig,
Nemmelmann." Wenn auch Herr von Persigny im gegenwärtigen Augenblick
keine officielle Stellung bekleidet, so drückt er doch ein sehr wesentliches Mo¬
ment im System des Napoleonismus aus; ein Moment, welches sich ohne
Zweifel Geltung verschaffen wird, sobald sich die bisherigen Voraussetzungen
als trügerisch erweisen.

Noch nach einer andern Seite hin dürften die Voraussetzungen Preußens
irrig sein; nämlich in Beziehung aus das Verhältniß der beiden Großmächte
zum deutschen Bund. Die (officielle) Leipziger Zeitung bringt darüber in ihrer
neuesten Nummer eine ziemlich weitläufige Auseinandersetzung, deren Schluß-
folgerungen wir 'aber nicht verstehen. Der Versasser stellt es als unangemessen
dar, wenn man auf dem Bundestage in Beziehung auf die orientalische Frage
dahin streben wollte, eine Majorität hervorzubringen; es müsse vielmehr so ein¬
gerichtet werden, daß allen verschiedenen Interessen der deutschen Mächte Rech¬
nung getragen werde. Nun sind wir damit zwar insofern einverstanden, daß
wir es für nothwendig halten, alle die verschiedenen Interessen zu Rathe zu
ziehen, aber zuletzt muß doch ein Ende gefunden werden. Daß dies nicht in
der Weise eines Majoritätsbeschlusses, wo die deutschen Fürsten nach der Kopf¬
zahl abstimmen, geschehen kann, versteht sich von selbst.' Aber irgendein Mittel
muß doch die Bundesversammlung kennen, einen definitiven Beschluß auch
über die auswärtige Politik zu Stande zu bringen.

Denn wenn das nicht der Fall wäre, so bliebe nichts Anderes übrig, als
das, was die preußische Negierung schon lange vorgeschlagen, wogegen sich
aber die sächsische Regierung mit großer Lebhaftigkeit ausgesprochen hat, näm¬
lich das Princip des freien Bündnisses, oder anders ausgedrückt, der ni» in
Parkes. Dies Princip würde aber für den Fall eines Krieges nichts Anderes
heißen, als Auflösung der Bundesverfassung, Rheinbund u. s. w.

Auch diesen schrecklichen Fall, der aber doch unzweifelhaft im Gebiet der
Möglichkeit liegt, muß sich die preußische Regierung sorgfältig überlegen. Ist,
in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß die Mehrzahl der deutschen
' Fürsten zu Preußen hält? — Wir sagen mit Bestimmtheit Nein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/194>, abgerufen am 22.07.2024.