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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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daß der Verfasser den Gegenstand nur von einer Seite betrachtet hat. Seine
Principien sind nämlich folgende.

Einmal hält er in der Entwicklung der Kunst einen innern organischen
Zusammenhang, einen Fortbau auf dem Boden der nationalen Bedürfnisse und
der Tradition für wünschenswert!), und beklagt daher die Wiederaufnahme des
Alterthums in Literatur und Kunst, die man als das Zeitalter der Wiedergeburt
(rsnaissanos) bezeichnet, als einen Abweg von der natürlichen Entwicklung.

Sodann verwirft er den Grundsatz, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts
in Deutschland aufgestellt und nach allen Seiten hin praktisch bethätigt wurde,
daß die Kunst um der Kunst willen da sei, durchaus und unbedingt, in dem
Grundgedanken wie in den Folgerungen, und stellt dagegen das Princip auf,
daß die Kunst wie das Handwerk einem bestimmten praktischen Zwecke dienen
müsse; in welche Kategorie er mit Recht auch die kirchlichen Zwecke rechnet.

Abstract genommen treten wir beiden Sätzen bei. Wir finden es nament¬
lich in Deutschland sehr beklagenswert!), wenigstens sür den. Augenblick, daß
in der Kunst wie in der Literatur ein gewaltsamer Bruch mit der Vergangenheit
stattgefunden hat, und daß die Kunst durch ihre Trennung von dem Inhalt
des wirklichen Lebens das Volk seinem eignen Ideal entfremdet hat. Ja wir
nehmen ebensowenig Anstand als Herr Reichensperger, an die größten Erschei¬
nungen unsrer Kunst und unsrer Literatur dieses Gefühl des Bedauerns anzu¬
knüpfen. -- Aber zweierlei möchten wir ihm zu bedenken geben.

Einmal ist es nicht möglich, eine einzelne historische Entwicklung von
der Gesammtentwicklung der Menschheit so zu isoliren, daß sie rein aus sich
selbst organisch ohne allen fremden Einfluß sich fortbilden könnte. Die Barbarei
des Mittelalters -- gegen diesen Ausdruck wird wol niemand etwas einzu¬
wenden haben, wenn wir die Periode von der Völkerwanderung bis ans die
Kreuzzüge damit bezeichnen -- hatte die Cultur des Alterthums unter einem
tiefen Schutt begraben, aber sie hatte sie nicht vernichtet. Nun gelang es zwar
dem gesunden Leben der Germanen, entzündet durch den Geist des Christenthums,
eine neue Cultur hervorzubringen, die an sich schon zu sehr erfreulichen Er¬
scheinungen führte, und die einen noch bessern Fortschritt in Aussicht stellte.
Aber diese Cultur, so harmonisch sie in sich zu sein schien, konnte doch den
Trieb des Menschen nach der Kenntniß des Fremden nicht ersticken. Man
grub in dem alten Schutt nach, und entdeckte das classische Alterthum. Daß
die fremde Erscheinung allgemein imponirte, daß sie einzelne zu einseitiger
Bewunderung und zum Verkennen ihrer volkstümlichen Bildung verleitete,
lag in der Natur der Sache. Aber daß sie im Stande war, die ganze
Cultur des Mittelalters, wenn auch nur im allmäligen GährungSproceß,
in Verwirrung zu setzen, aus den Fugen zu reißen, auseinanderzusprengen,
das zeigt unzweifelhaft, daß diese scheinbar so harmonische, ^so übereinstim-


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daß der Verfasser den Gegenstand nur von einer Seite betrachtet hat. Seine
Principien sind nämlich folgende.

Einmal hält er in der Entwicklung der Kunst einen innern organischen
Zusammenhang, einen Fortbau auf dem Boden der nationalen Bedürfnisse und
der Tradition für wünschenswert!), und beklagt daher die Wiederaufnahme des
Alterthums in Literatur und Kunst, die man als das Zeitalter der Wiedergeburt
(rsnaissanos) bezeichnet, als einen Abweg von der natürlichen Entwicklung.

Sodann verwirft er den Grundsatz, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts
in Deutschland aufgestellt und nach allen Seiten hin praktisch bethätigt wurde,
daß die Kunst um der Kunst willen da sei, durchaus und unbedingt, in dem
Grundgedanken wie in den Folgerungen, und stellt dagegen das Princip auf,
daß die Kunst wie das Handwerk einem bestimmten praktischen Zwecke dienen
müsse; in welche Kategorie er mit Recht auch die kirchlichen Zwecke rechnet.

Abstract genommen treten wir beiden Sätzen bei. Wir finden es nament¬
lich in Deutschland sehr beklagenswert!), wenigstens sür den. Augenblick, daß
in der Kunst wie in der Literatur ein gewaltsamer Bruch mit der Vergangenheit
stattgefunden hat, und daß die Kunst durch ihre Trennung von dem Inhalt
des wirklichen Lebens das Volk seinem eignen Ideal entfremdet hat. Ja wir
nehmen ebensowenig Anstand als Herr Reichensperger, an die größten Erschei¬
nungen unsrer Kunst und unsrer Literatur dieses Gefühl des Bedauerns anzu¬
knüpfen. — Aber zweierlei möchten wir ihm zu bedenken geben.

Einmal ist es nicht möglich, eine einzelne historische Entwicklung von
der Gesammtentwicklung der Menschheit so zu isoliren, daß sie rein aus sich
selbst organisch ohne allen fremden Einfluß sich fortbilden könnte. Die Barbarei
des Mittelalters — gegen diesen Ausdruck wird wol niemand etwas einzu¬
wenden haben, wenn wir die Periode von der Völkerwanderung bis ans die
Kreuzzüge damit bezeichnen — hatte die Cultur des Alterthums unter einem
tiefen Schutt begraben, aber sie hatte sie nicht vernichtet. Nun gelang es zwar
dem gesunden Leben der Germanen, entzündet durch den Geist des Christenthums,
eine neue Cultur hervorzubringen, die an sich schon zu sehr erfreulichen Er¬
scheinungen führte, und die einen noch bessern Fortschritt in Aussicht stellte.
Aber diese Cultur, so harmonisch sie in sich zu sein schien, konnte doch den
Trieb des Menschen nach der Kenntniß des Fremden nicht ersticken. Man
grub in dem alten Schutt nach, und entdeckte das classische Alterthum. Daß
die fremde Erscheinung allgemein imponirte, daß sie einzelne zu einseitiger
Bewunderung und zum Verkennen ihrer volkstümlichen Bildung verleitete,
lag in der Natur der Sache. Aber daß sie im Stande war, die ganze
Cultur des Mittelalters, wenn auch nur im allmäligen GährungSproceß,
in Verwirrung zu setzen, aus den Fugen zu reißen, auseinanderzusprengen,
das zeigt unzweifelhaft, daß diese scheinbar so harmonische, ^so übereinstim-


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[0145] daß der Verfasser den Gegenstand nur von einer Seite betrachtet hat. Seine Principien sind nämlich folgende. Einmal hält er in der Entwicklung der Kunst einen innern organischen Zusammenhang, einen Fortbau auf dem Boden der nationalen Bedürfnisse und der Tradition für wünschenswert!), und beklagt daher die Wiederaufnahme des Alterthums in Literatur und Kunst, die man als das Zeitalter der Wiedergeburt (rsnaissanos) bezeichnet, als einen Abweg von der natürlichen Entwicklung. Sodann verwirft er den Grundsatz, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts in Deutschland aufgestellt und nach allen Seiten hin praktisch bethätigt wurde, daß die Kunst um der Kunst willen da sei, durchaus und unbedingt, in dem Grundgedanken wie in den Folgerungen, und stellt dagegen das Princip auf, daß die Kunst wie das Handwerk einem bestimmten praktischen Zwecke dienen müsse; in welche Kategorie er mit Recht auch die kirchlichen Zwecke rechnet. Abstract genommen treten wir beiden Sätzen bei. Wir finden es nament¬ lich in Deutschland sehr beklagenswert!), wenigstens sür den. Augenblick, daß in der Kunst wie in der Literatur ein gewaltsamer Bruch mit der Vergangenheit stattgefunden hat, und daß die Kunst durch ihre Trennung von dem Inhalt des wirklichen Lebens das Volk seinem eignen Ideal entfremdet hat. Ja wir nehmen ebensowenig Anstand als Herr Reichensperger, an die größten Erschei¬ nungen unsrer Kunst und unsrer Literatur dieses Gefühl des Bedauerns anzu¬ knüpfen. — Aber zweierlei möchten wir ihm zu bedenken geben. Einmal ist es nicht möglich, eine einzelne historische Entwicklung von der Gesammtentwicklung der Menschheit so zu isoliren, daß sie rein aus sich selbst organisch ohne allen fremden Einfluß sich fortbilden könnte. Die Barbarei des Mittelalters — gegen diesen Ausdruck wird wol niemand etwas einzu¬ wenden haben, wenn wir die Periode von der Völkerwanderung bis ans die Kreuzzüge damit bezeichnen — hatte die Cultur des Alterthums unter einem tiefen Schutt begraben, aber sie hatte sie nicht vernichtet. Nun gelang es zwar dem gesunden Leben der Germanen, entzündet durch den Geist des Christenthums, eine neue Cultur hervorzubringen, die an sich schon zu sehr erfreulichen Er¬ scheinungen führte, und die einen noch bessern Fortschritt in Aussicht stellte. Aber diese Cultur, so harmonisch sie in sich zu sein schien, konnte doch den Trieb des Menschen nach der Kenntniß des Fremden nicht ersticken. Man grub in dem alten Schutt nach, und entdeckte das classische Alterthum. Daß die fremde Erscheinung allgemein imponirte, daß sie einzelne zu einseitiger Bewunderung und zum Verkennen ihrer volkstümlichen Bildung verleitete, lag in der Natur der Sache. Aber daß sie im Stande war, die ganze Cultur des Mittelalters, wenn auch nur im allmäligen GährungSproceß, in Verwirrung zu setzen, aus den Fugen zu reißen, auseinanderzusprengen, das zeigt unzweifelhaft, daß diese scheinbar so harmonische, ^so übereinstim- Grenzbvtcn. IV. 48ö4. 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/145>, abgerufen am 22.07.2024.