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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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der seinen schädlichen Einfluß auf das gesammte Gebiet der Literatur ausgedehnt
hat. Die Eigenthümlichkeit dieses Stils besteht darin, daß er sich in der Mitte
zwischen wissenschaftlicher Prosa und lyrischer Poesie bewegt, daß er von beiden
einzelne Eigenschaften entlehnt, die nun zueinander nicht recht passen wollen,
und daß ihm alle Haltung und Idealität abgeht. Daß ein solcher Stil sich
bilden konnte, wird nur erklärlich, wenn man bedenkt, daß Uebertreibungen von
an sich zweckmäßigen Eigenschaften leicht ins Verkehrte übergehen.

Der wissenschaftliche Stil, wenn wir ihn als classisch bezeichnen wollen,
muß zwei Eigenschaften haben: strenge Präcision und anregende Lebendigkeit
Es gibt zwar in der Wissenschaft einzelne Gebiete, welche das letztere wenigstens
theilweise ausschließen, z. B. die Mathematik und die damit zusammenhängenden
Disciplinen, aber wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn wir selbst von
mathematischen Lehrsätzen behaupten, daß auch in ihnen sich der künstlerische
Sinn des Schriftstellers zeigen kann, daß ein sehr großer Unterschied ist, ob
der Pythagoräische Lehrsatz von einem geistvollen oder geistlosen Mathematiker
vorgetragen wird. Hier in der Mathematik, die es lediglich mit Abstractionen zu
thun hat, wird die Lebendigkeit des Vortrages nur darin bestehen können, daß man
das Wesentliche, daß man den leitenden Gedanken und den Grund des Verfahrens
sehr scharf hervorhebt, so daß der Schüler in jedem Augenblick das Gefühl freier
Selbstbestimmung hat und nicht von dem Chaos der Zahlen und Linien willenlos
hin und hergezogen wird. In allen andern Gebieten der Wissenschaft, dagegen,
die concrete, dem Leben angehörige Momente zum Gegenstand haben, wird noch
eine andre Lebendigkeit eintreten können, die wir sinnliche Anschaulichkeit nennen
möchten. Lessing, der überhaupt wol den besten prosaischen Stil in Deutschland
geschrieben hat, erreicht das hauptsächlich durch zwei Mittel. Einmal erregt er bei
seinen Lesern stets das Gefühl eines Denkprocesses, einer Thätigkeit, die nicht blos
recipirt oder gibt, sondern ein Wechselverhältniß zwischen der Seele des Lehrenden
und Lernenden eintreten läßt. Die dialektische Fähigkeit, das höchste Moment
in der Kunst der Prosa, wenn sie die Gegenstände wirklich erfaßt, ist die schwäch¬
lichste und armseligste Koketterie, wenn sie blos in den Formen, womöglich in
platonischen Reminiscenzen beruht, wie z. B. in dem Schellingschen Bruno oder
in den Tieckschen Gesprächen. Das zweite Mittel, welches Lessing häusig, aber
immer mit großer Vorsicht anwendet, ist die eigentlich der Poesie angehörige
Bildlichkeit. Der richtige Gebrauch von Bildern, Gleichnissen und ähnlichen
Formen, die auf ein ar^umentum aä Kominow auslaufen, in der Prosa kann
UM der sein, die durch vielseitige Betrachtungen zerstreute Aufmerksamkeit auf
einen Punkt zu firiren, in dem die Resultate des Denkens der Phantasie zu¬
gänglich gemacht werden; eine Bildlichkeit, die über diesen Zweck hinausgeht, die
etwas für sich selbst sein will, ist in der Prosa unerträglich, denn sie stört die
Aufmerksamkeit und unterbricht das folgerichtige auf die Sache bezügliche


der seinen schädlichen Einfluß auf das gesammte Gebiet der Literatur ausgedehnt
hat. Die Eigenthümlichkeit dieses Stils besteht darin, daß er sich in der Mitte
zwischen wissenschaftlicher Prosa und lyrischer Poesie bewegt, daß er von beiden
einzelne Eigenschaften entlehnt, die nun zueinander nicht recht passen wollen,
und daß ihm alle Haltung und Idealität abgeht. Daß ein solcher Stil sich
bilden konnte, wird nur erklärlich, wenn man bedenkt, daß Uebertreibungen von
an sich zweckmäßigen Eigenschaften leicht ins Verkehrte übergehen.

Der wissenschaftliche Stil, wenn wir ihn als classisch bezeichnen wollen,
muß zwei Eigenschaften haben: strenge Präcision und anregende Lebendigkeit
Es gibt zwar in der Wissenschaft einzelne Gebiete, welche das letztere wenigstens
theilweise ausschließen, z. B. die Mathematik und die damit zusammenhängenden
Disciplinen, aber wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn wir selbst von
mathematischen Lehrsätzen behaupten, daß auch in ihnen sich der künstlerische
Sinn des Schriftstellers zeigen kann, daß ein sehr großer Unterschied ist, ob
der Pythagoräische Lehrsatz von einem geistvollen oder geistlosen Mathematiker
vorgetragen wird. Hier in der Mathematik, die es lediglich mit Abstractionen zu
thun hat, wird die Lebendigkeit des Vortrages nur darin bestehen können, daß man
das Wesentliche, daß man den leitenden Gedanken und den Grund des Verfahrens
sehr scharf hervorhebt, so daß der Schüler in jedem Augenblick das Gefühl freier
Selbstbestimmung hat und nicht von dem Chaos der Zahlen und Linien willenlos
hin und hergezogen wird. In allen andern Gebieten der Wissenschaft, dagegen,
die concrete, dem Leben angehörige Momente zum Gegenstand haben, wird noch
eine andre Lebendigkeit eintreten können, die wir sinnliche Anschaulichkeit nennen
möchten. Lessing, der überhaupt wol den besten prosaischen Stil in Deutschland
geschrieben hat, erreicht das hauptsächlich durch zwei Mittel. Einmal erregt er bei
seinen Lesern stets das Gefühl eines Denkprocesses, einer Thätigkeit, die nicht blos
recipirt oder gibt, sondern ein Wechselverhältniß zwischen der Seele des Lehrenden
und Lernenden eintreten läßt. Die dialektische Fähigkeit, das höchste Moment
in der Kunst der Prosa, wenn sie die Gegenstände wirklich erfaßt, ist die schwäch¬
lichste und armseligste Koketterie, wenn sie blos in den Formen, womöglich in
platonischen Reminiscenzen beruht, wie z. B. in dem Schellingschen Bruno oder
in den Tieckschen Gesprächen. Das zweite Mittel, welches Lessing häusig, aber
immer mit großer Vorsicht anwendet, ist die eigentlich der Poesie angehörige
Bildlichkeit. Der richtige Gebrauch von Bildern, Gleichnissen und ähnlichen
Formen, die auf ein ar^umentum aä Kominow auslaufen, in der Prosa kann
UM der sein, die durch vielseitige Betrachtungen zerstreute Aufmerksamkeit auf
einen Punkt zu firiren, in dem die Resultate des Denkens der Phantasie zu¬
gänglich gemacht werden; eine Bildlichkeit, die über diesen Zweck hinausgeht, die
etwas für sich selbst sein will, ist in der Prosa unerträglich, denn sie stört die
Aufmerksamkeit und unterbricht das folgerichtige auf die Sache bezügliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/50>, abgerufen am 27.07.2024.