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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Der Staat soll an und für sich nicht schaffen, er soll nur für das Geschaffene
Garantie leisten, darum sind die Radicalen wie die Conservativen im gleichen
Irrthum, wenn die einen in dem neuzugestaltenden Staat die Quelle
aller bürgerlichen Glückseligkeit suchen, und wenn die andern von dem
bestehenden Staat die Abhilfe gegen alle revolutionären Umtriebe erwarten.

Wir wissen wol, daß diese Ansicht eine weit .verbreitete ist und daß sie in
den öffentlichen Zuständen eine lebhafte Unterstützung findet; allein die Existenz
jener das Volk aufregenden Ideen ist an sich schon ein hinlänglicher Beleg
dafür, daß man sie nicht ohne weiteres negiren darf, daß es vielmehr vor
allem darauf ankommt, ihnen die zweckmäßige Fassung zu geben. Ganz im
Gegensatz zum Verfasser sind wir der Ueberzeugung, daß jene Ideen eben der
größte Gewinn für die gedeihliche Fortentwicklung der Menschheit, die größte
Garantie für die Fortdauer der Civilisation sind. Als im vorigen Jahrhundert
die Idee des Weltbürgertums sich verbreitete, die consequent ausgeführt dahin
führen mußte, alle politischen Organisationen in Atome zu zersplittern, war die
Civilisation in einer weit größeren Gefahr, als jetzt. Die politisch en Ideen,
welche gegenwärtig die Masse bewegen, (wohl zu unterscheiden von den socia¬
listischen), sind nur noch dem Anschein nach revolutionär und destructiv; sie
sind vielmehr conservativ und organisch, denn sie gehen darauf aus, den Men¬
schen aus seiner selbstsüchtigen Vereinzelung zu entreißen und ihm an einem
lebendigen Organismus einen festen Halt zu geben. Dieses Bestreben, als
integrirendes Glied einer sittlichen Gemeinschaft der Geschichte anzugehören,
wird zuweilen durch romantische Vorstellungen oder durch einseitige Abstractio-
nen verwirrt. So ist z. B. das Band der Nationalität, d, h. der Sprach¬
gemeinschaft, als ein so wichtiges Moment für die individuelle Lebendigkeit
eines Staates eS auch betrachtet werden muß, doch an sich noch nicht genügend,
um die Grundlage eines wirklichen Staats zu bilden. In ihrem äußersten
Ertrem ist diese Idee auch nicht bei dem verwirrtesten Kopfe zu finden.
hat z, B. keinen noch so radicalen Patrioten gegeben, der die sämmtlichen >"
der Welt verstreuten Deutschen zu einem Staat hätte vereinigen wollen. Die
Physische Grundlage des Bodens, welche die Fähigkeit gibt, unabhängig "ut
unbeirrt von andern Einflüssen für, sich zu eristiren, ist eine ebenso wichtig
Rücksicht, ferner die Existenz einer bereits entwickelten Staatskraft, die M
Schritt für Schritt, wenn auch nicht ohne Gewaltsamkeit zu einem nationale"
Staate entwickeln kann. In Deutschland hat die Existenz zweier solcher Staatö-
kräfte, die einander die Wage halten, sowie die romantische Vorstellung eines
allgemeinen deutschen Reichs, welches doch eigentlich nie bestanden hat, bisher
der nationalen Entwicklung unübersteigliche Hindernisse bereitet. Allein diese
Hindernisse sind keineswegs der Art, daß sie der Macht der Idee auf die
Dauer Widerstand leisten könnten. Und je einstimmiger und entschiedener wir


Der Staat soll an und für sich nicht schaffen, er soll nur für das Geschaffene
Garantie leisten, darum sind die Radicalen wie die Conservativen im gleichen
Irrthum, wenn die einen in dem neuzugestaltenden Staat die Quelle
aller bürgerlichen Glückseligkeit suchen, und wenn die andern von dem
bestehenden Staat die Abhilfe gegen alle revolutionären Umtriebe erwarten.

Wir wissen wol, daß diese Ansicht eine weit .verbreitete ist und daß sie in
den öffentlichen Zuständen eine lebhafte Unterstützung findet; allein die Existenz
jener das Volk aufregenden Ideen ist an sich schon ein hinlänglicher Beleg
dafür, daß man sie nicht ohne weiteres negiren darf, daß es vielmehr vor
allem darauf ankommt, ihnen die zweckmäßige Fassung zu geben. Ganz im
Gegensatz zum Verfasser sind wir der Ueberzeugung, daß jene Ideen eben der
größte Gewinn für die gedeihliche Fortentwicklung der Menschheit, die größte
Garantie für die Fortdauer der Civilisation sind. Als im vorigen Jahrhundert
die Idee des Weltbürgertums sich verbreitete, die consequent ausgeführt dahin
führen mußte, alle politischen Organisationen in Atome zu zersplittern, war die
Civilisation in einer weit größeren Gefahr, als jetzt. Die politisch en Ideen,
welche gegenwärtig die Masse bewegen, (wohl zu unterscheiden von den socia¬
listischen), sind nur noch dem Anschein nach revolutionär und destructiv; sie
sind vielmehr conservativ und organisch, denn sie gehen darauf aus, den Men¬
schen aus seiner selbstsüchtigen Vereinzelung zu entreißen und ihm an einem
lebendigen Organismus einen festen Halt zu geben. Dieses Bestreben, als
integrirendes Glied einer sittlichen Gemeinschaft der Geschichte anzugehören,
wird zuweilen durch romantische Vorstellungen oder durch einseitige Abstractio-
nen verwirrt. So ist z. B. das Band der Nationalität, d, h. der Sprach¬
gemeinschaft, als ein so wichtiges Moment für die individuelle Lebendigkeit
eines Staates eS auch betrachtet werden muß, doch an sich noch nicht genügend,
um die Grundlage eines wirklichen Staats zu bilden. In ihrem äußersten
Ertrem ist diese Idee auch nicht bei dem verwirrtesten Kopfe zu finden.
hat z, B. keinen noch so radicalen Patrioten gegeben, der die sämmtlichen >"
der Welt verstreuten Deutschen zu einem Staat hätte vereinigen wollen. Die
Physische Grundlage des Bodens, welche die Fähigkeit gibt, unabhängig »ut
unbeirrt von andern Einflüssen für, sich zu eristiren, ist eine ebenso wichtig
Rücksicht, ferner die Existenz einer bereits entwickelten Staatskraft, die M
Schritt für Schritt, wenn auch nicht ohne Gewaltsamkeit zu einem nationale»
Staate entwickeln kann. In Deutschland hat die Existenz zweier solcher Staatö-
kräfte, die einander die Wage halten, sowie die romantische Vorstellung eines
allgemeinen deutschen Reichs, welches doch eigentlich nie bestanden hat, bisher
der nationalen Entwicklung unübersteigliche Hindernisse bereitet. Allein diese
Hindernisse sind keineswegs der Art, daß sie der Macht der Idee auf die
Dauer Widerstand leisten könnten. Und je einstimmiger und entschiedener wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/434>, abgerufen am 08.01.2025.