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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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schärfer hätte hervorheben sollen. Wir wollen zu diesem Zweck etwas weiter
ausholen.

Bekanntlich ist die Idee vom Gesellschaftsvertrag, d. h. daß zu einer be¬
stimmten Zeit die verschiedenen Einwohner eines Landes zusammengekommen
seien und festgestellt hätten, was unter ihnen Rechtens sein solle, in neuester
Zeit sehr in Mißcredit gekommen, und man nimmt ziemlich allgemein an, der
Staat entstehe mit dem Menschen. Vielleicht würde man diese Gegensätze
einigermaßen ausgleichen können, wenn man die verschiedenen Begriffe, die
in dem Worte Staat liegen, genauer auseinanderhieltc. Wo die Menschen
in der Geschichte zuerst auftreten, erscheinen sie bereits als einem organischen
Ganzen angehörig und durch die Sittlichkeit desselben substantiell bestimmt.
Wenn man also jeden Organismus unter den Menschen einen Staat nennen
will, so kann man füglich sagen, wo die Menschen zuerst auftreten, erscheinen
sie sofort innerhalb eines Staats. Allein diese substantielle Gebundenheit hört
durch den friedlichen oder feindlichen Verkehr der Völker auf, die festen Orga¬
nisationen gerathen in Auflösung und in den neuen politischen Gestaltungen
ist das Moment des Zufälligen überwiegend. So war es namentlich im Mittel¬
alter. Die Beziehungen von Herrschaft und Unterthänigkeit, von Rechtsschutz
und Rechtsgenossenschaft durchkreuzten sich so bunt und labyrinthisch, daß matt
wol von jedem einzelnen sagen konnte, er gehöre irgendeinem Staate an, daß
es aber schwer zu bestimmen gewesen sein würde, welchem bestimmten Staate
er eigentlich angehöre. Nun trat aber der dem Menschen angeborne Trieb
hervor, einem selbstständigen individuellen und souveränen Organismus anzu¬
gehören und führte zu der Gründung der modernen absoluten Staaten. Na¬
türlich regte sich der Trieb zunächst bei denen, die herrschen wollten, aber sehr
bald pflanzte er sich auch auf die Unterthanen fort, und so ist z. B. das fran¬
zösische National- oder Staatsgefühl schon sehr früh entwickelt worden.

Wo es aber den Fürsten nicht gelang, das neue absolute Staatsleben
zu gründen, erwachte in neuerer Zeit dieser Trieb im Volke mit um so grö¬
ßerer Gewalt, als ihm Hindernisse entgegenstanden. Bei den Italienern be¬
steht er bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert, bei den Deutschen seit dem
achtzehnten. Aus diesem Triebe, einem für sich bestehenden, freien und sub¬
stantiell zusammengehörigen Staatsorganismus anzugehören, einem Trieb, der
auch den Auswanderer im Urwald nicht verläßt, sind die Principien der Volks-
souveränetät und der Nationalität herzuleiten.¬

Wo der Staat wirklich ein selbstständiges Ganze bildet, z. B. in Frank
reich, ist der Gegensatz zwischen Volkssouveränetät und Legitimität nicht mehr
so groß. Man vergleiche die Manifeste des Grafen von Chambord, des gegen¬
wärtigen Kaisers und der früheren republikanischen Negierung: sie kommen
alle darin überein, die Integrität des französischen Staats oder der sranzo-


schärfer hätte hervorheben sollen. Wir wollen zu diesem Zweck etwas weiter
ausholen.

Bekanntlich ist die Idee vom Gesellschaftsvertrag, d. h. daß zu einer be¬
stimmten Zeit die verschiedenen Einwohner eines Landes zusammengekommen
seien und festgestellt hätten, was unter ihnen Rechtens sein solle, in neuester
Zeit sehr in Mißcredit gekommen, und man nimmt ziemlich allgemein an, der
Staat entstehe mit dem Menschen. Vielleicht würde man diese Gegensätze
einigermaßen ausgleichen können, wenn man die verschiedenen Begriffe, die
in dem Worte Staat liegen, genauer auseinanderhieltc. Wo die Menschen
in der Geschichte zuerst auftreten, erscheinen sie bereits als einem organischen
Ganzen angehörig und durch die Sittlichkeit desselben substantiell bestimmt.
Wenn man also jeden Organismus unter den Menschen einen Staat nennen
will, so kann man füglich sagen, wo die Menschen zuerst auftreten, erscheinen
sie sofort innerhalb eines Staats. Allein diese substantielle Gebundenheit hört
durch den friedlichen oder feindlichen Verkehr der Völker auf, die festen Orga¬
nisationen gerathen in Auflösung und in den neuen politischen Gestaltungen
ist das Moment des Zufälligen überwiegend. So war es namentlich im Mittel¬
alter. Die Beziehungen von Herrschaft und Unterthänigkeit, von Rechtsschutz
und Rechtsgenossenschaft durchkreuzten sich so bunt und labyrinthisch, daß matt
wol von jedem einzelnen sagen konnte, er gehöre irgendeinem Staate an, daß
es aber schwer zu bestimmen gewesen sein würde, welchem bestimmten Staate
er eigentlich angehöre. Nun trat aber der dem Menschen angeborne Trieb
hervor, einem selbstständigen individuellen und souveränen Organismus anzu¬
gehören und führte zu der Gründung der modernen absoluten Staaten. Na¬
türlich regte sich der Trieb zunächst bei denen, die herrschen wollten, aber sehr
bald pflanzte er sich auch auf die Unterthanen fort, und so ist z. B. das fran¬
zösische National- oder Staatsgefühl schon sehr früh entwickelt worden.

Wo es aber den Fürsten nicht gelang, das neue absolute Staatsleben
zu gründen, erwachte in neuerer Zeit dieser Trieb im Volke mit um so grö¬
ßerer Gewalt, als ihm Hindernisse entgegenstanden. Bei den Italienern be¬
steht er bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert, bei den Deutschen seit dem
achtzehnten. Aus diesem Triebe, einem für sich bestehenden, freien und sub¬
stantiell zusammengehörigen Staatsorganismus anzugehören, einem Trieb, der
auch den Auswanderer im Urwald nicht verläßt, sind die Principien der Volks-
souveränetät und der Nationalität herzuleiten.¬

Wo der Staat wirklich ein selbstständiges Ganze bildet, z. B. in Frank
reich, ist der Gegensatz zwischen Volkssouveränetät und Legitimität nicht mehr
so groß. Man vergleiche die Manifeste des Grafen von Chambord, des gegen¬
wärtigen Kaisers und der früheren republikanischen Negierung: sie kommen
alle darin überein, die Integrität des französischen Staats oder der sranzo-


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[0432] schärfer hätte hervorheben sollen. Wir wollen zu diesem Zweck etwas weiter ausholen. Bekanntlich ist die Idee vom Gesellschaftsvertrag, d. h. daß zu einer be¬ stimmten Zeit die verschiedenen Einwohner eines Landes zusammengekommen seien und festgestellt hätten, was unter ihnen Rechtens sein solle, in neuester Zeit sehr in Mißcredit gekommen, und man nimmt ziemlich allgemein an, der Staat entstehe mit dem Menschen. Vielleicht würde man diese Gegensätze einigermaßen ausgleichen können, wenn man die verschiedenen Begriffe, die in dem Worte Staat liegen, genauer auseinanderhieltc. Wo die Menschen in der Geschichte zuerst auftreten, erscheinen sie bereits als einem organischen Ganzen angehörig und durch die Sittlichkeit desselben substantiell bestimmt. Wenn man also jeden Organismus unter den Menschen einen Staat nennen will, so kann man füglich sagen, wo die Menschen zuerst auftreten, erscheinen sie sofort innerhalb eines Staats. Allein diese substantielle Gebundenheit hört durch den friedlichen oder feindlichen Verkehr der Völker auf, die festen Orga¬ nisationen gerathen in Auflösung und in den neuen politischen Gestaltungen ist das Moment des Zufälligen überwiegend. So war es namentlich im Mittel¬ alter. Die Beziehungen von Herrschaft und Unterthänigkeit, von Rechtsschutz und Rechtsgenossenschaft durchkreuzten sich so bunt und labyrinthisch, daß matt wol von jedem einzelnen sagen konnte, er gehöre irgendeinem Staate an, daß es aber schwer zu bestimmen gewesen sein würde, welchem bestimmten Staate er eigentlich angehöre. Nun trat aber der dem Menschen angeborne Trieb hervor, einem selbstständigen individuellen und souveränen Organismus anzu¬ gehören und führte zu der Gründung der modernen absoluten Staaten. Na¬ türlich regte sich der Trieb zunächst bei denen, die herrschen wollten, aber sehr bald pflanzte er sich auch auf die Unterthanen fort, und so ist z. B. das fran¬ zösische National- oder Staatsgefühl schon sehr früh entwickelt worden. Wo es aber den Fürsten nicht gelang, das neue absolute Staatsleben zu gründen, erwachte in neuerer Zeit dieser Trieb im Volke mit um so grö¬ ßerer Gewalt, als ihm Hindernisse entgegenstanden. Bei den Italienern be¬ steht er bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert, bei den Deutschen seit dem achtzehnten. Aus diesem Triebe, einem für sich bestehenden, freien und sub¬ stantiell zusammengehörigen Staatsorganismus anzugehören, einem Trieb, der auch den Auswanderer im Urwald nicht verläßt, sind die Principien der Volks- souveränetät und der Nationalität herzuleiten.¬ Wo der Staat wirklich ein selbstständiges Ganze bildet, z. B. in Frank reich, ist der Gegensatz zwischen Volkssouveränetät und Legitimität nicht mehr so groß. Man vergleiche die Manifeste des Grafen von Chambord, des gegen¬ wärtigen Kaisers und der früheren republikanischen Negierung: sie kommen alle darin überein, die Integrität des französischen Staats oder der sranzo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/432>, abgerufen am 27.07.2024.