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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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historisch-politischen und statistischen Werke, die sehr bald in die Manier der
europäischen Geschichtschreibung übergingen und das vermissen ließen, was bei
einer Auffassung vollständig neuer Zustände das wichtigste ist, nämlich die be-
lin'llirte und in bestimmten Erscheinungen sich entwickelnde Schilderung der sitt¬
lichen Zustände. Das Urtheil schwankt bei uns. namentlich in Deutschland,
fortwährend zwischen zwei Extremen. Entweder ruft der Verdruß über die eig¬
nen Verhältnisse einen überspannten und krankhaften Idealismus hervor, oder
der Contrast der ungemüthlichen amerikanischen Sitten gegen unsre süße
Gewohnheit des Daseins verleitet zu einem wegwerfenden Urtheil, das um so
Geister auftritt, da niemand die Thatsachen wegleugnen kann. Sklaverei, Sek¬
tenwesen, demokratische Rohheit, Eigennutz und Verwilderung, nüchterne Be¬
rechnung und tollkühne Schwindelei u. s. w., das alles sind Erscheinungen, die
uns in Amerika zu häusig begegnen, als daß wir die relative Berechtigung
eines solchen Eindrucks wegleugnen könnten. Namentlich die östlichen Staaten
Amerikas machen, so jung sie sind, auf uns häusig den Eindruck einer bereits
recht greisenhafter, in Verwilderung übergegangenen Cultur. Für die praktische
^'age, ob in jedem individuellen Fall die Auswanderung zu empfehlen sei oder
n>ehe, ist hsxs^ Eindruck auch vollkommen ausreichend. Wer nicht im Stande
seinen sittlichen Ueberlieferungen vollkommen zu entsagen, der bleibe der
Neuen Welt fern. Aber wenn wir uns historisch verherrlichen wollen, wie diese
Neue sittliche Welt entstanden ist, und waS für uns noch wichtiger sein muß,
^uf welche Lebenskraft man daraus schließen darf, so genug! der unmittelbare Ein-
uck keineswegs. Nun gibt es aber keine so charakteristischen Momente für die
, enntniß des amerikanischen Charakters, als die Entstehung neuer Ansiedlungen
"n Urwald und im Kampf mit den Indianern. Wir lernen daraus nicht blos die
^)YIischen Umstände würdigen, welche der Thätigkeit des amerikanischen Geistes
'Ne bestimmte Richtung gaben, sondern wir erkennen daraus auch, was so häufig'N'ßverstanden wird, daß bereits ein vollständig ausgeprägter nationaler Charakter
^ amerikanischen Volke vorhanden ist; ein Charakter der höchsten Productivität
Elasticität, der, wenn seine Ausgabe im Innern vollendet sein wird, nach
'per hi,, zu außerordentlichsten Eroberungen berufen ist. In der Be-
'Aderung dieser großen und schöpferischen historischen Kraft wird sich dann
"es die Antipathie des unmittelbaren Eindrucks leicht verlieren. -- Die Ge-
^ ste Daniel Bvones, des ersten Ansiedlers in Kentucky, gibt einen höchst
"rakteMischen Beleg für diese Productivität, und bei der anschaulichen Aus-
ei/?^' '"'t ^'r sie behandelt ist, werden wir zu sehr in die Mitte der Er-
schx ^setzt, um noch Nebengedanken Raum geben zu können. Wir our-
^/N lebhaft, daß recht viele Episoden der amerikanischen Geschichte auf diese
in,v>^ ^gestellt werden; sie würden für unsre Bildung nützlicher sein, als ein
'Wis so vorzügliches Werk wie die Geschichte von Bancroft, das aber über


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historisch-politischen und statistischen Werke, die sehr bald in die Manier der
europäischen Geschichtschreibung übergingen und das vermissen ließen, was bei
einer Auffassung vollständig neuer Zustände das wichtigste ist, nämlich die be-
lin'llirte und in bestimmten Erscheinungen sich entwickelnde Schilderung der sitt¬
lichen Zustände. Das Urtheil schwankt bei uns. namentlich in Deutschland,
fortwährend zwischen zwei Extremen. Entweder ruft der Verdruß über die eig¬
nen Verhältnisse einen überspannten und krankhaften Idealismus hervor, oder
der Contrast der ungemüthlichen amerikanischen Sitten gegen unsre süße
Gewohnheit des Daseins verleitet zu einem wegwerfenden Urtheil, das um so
Geister auftritt, da niemand die Thatsachen wegleugnen kann. Sklaverei, Sek¬
tenwesen, demokratische Rohheit, Eigennutz und Verwilderung, nüchterne Be¬
rechnung und tollkühne Schwindelei u. s. w., das alles sind Erscheinungen, die
uns in Amerika zu häusig begegnen, als daß wir die relative Berechtigung
eines solchen Eindrucks wegleugnen könnten. Namentlich die östlichen Staaten
Amerikas machen, so jung sie sind, auf uns häusig den Eindruck einer bereits
recht greisenhafter, in Verwilderung übergegangenen Cultur. Für die praktische
^'age, ob in jedem individuellen Fall die Auswanderung zu empfehlen sei oder
n>ehe, ist hsxs^ Eindruck auch vollkommen ausreichend. Wer nicht im Stande
seinen sittlichen Ueberlieferungen vollkommen zu entsagen, der bleibe der
Neuen Welt fern. Aber wenn wir uns historisch verherrlichen wollen, wie diese
Neue sittliche Welt entstanden ist, und waS für uns noch wichtiger sein muß,
^uf welche Lebenskraft man daraus schließen darf, so genug! der unmittelbare Ein-
uck keineswegs. Nun gibt es aber keine so charakteristischen Momente für die
, enntniß des amerikanischen Charakters, als die Entstehung neuer Ansiedlungen
"n Urwald und im Kampf mit den Indianern. Wir lernen daraus nicht blos die
^)YIischen Umstände würdigen, welche der Thätigkeit des amerikanischen Geistes
'Ne bestimmte Richtung gaben, sondern wir erkennen daraus auch, was so häufig'N'ßverstanden wird, daß bereits ein vollständig ausgeprägter nationaler Charakter
^ amerikanischen Volke vorhanden ist; ein Charakter der höchsten Productivität
Elasticität, der, wenn seine Ausgabe im Innern vollendet sein wird, nach
'per hi,, zu außerordentlichsten Eroberungen berufen ist. In der Be-
'Aderung dieser großen und schöpferischen historischen Kraft wird sich dann
"es die Antipathie des unmittelbaren Eindrucks leicht verlieren. — Die Ge-
^ ste Daniel Bvones, des ersten Ansiedlers in Kentucky, gibt einen höchst
"rakteMischen Beleg für diese Productivität, und bei der anschaulichen Aus-
ei/?^' '"'t ^'r sie behandelt ist, werden wir zu sehr in die Mitte der Er-
schx ^setzt, um noch Nebengedanken Raum geben zu können. Wir our-
^/N lebhaft, daß recht viele Episoden der amerikanischen Geschichte auf diese
in,v>^ ^gestellt werden; sie würden für unsre Bildung nützlicher sein, als ein
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[0425] historisch-politischen und statistischen Werke, die sehr bald in die Manier der europäischen Geschichtschreibung übergingen und das vermissen ließen, was bei einer Auffassung vollständig neuer Zustände das wichtigste ist, nämlich die be- lin'llirte und in bestimmten Erscheinungen sich entwickelnde Schilderung der sitt¬ lichen Zustände. Das Urtheil schwankt bei uns. namentlich in Deutschland, fortwährend zwischen zwei Extremen. Entweder ruft der Verdruß über die eig¬ nen Verhältnisse einen überspannten und krankhaften Idealismus hervor, oder der Contrast der ungemüthlichen amerikanischen Sitten gegen unsre süße Gewohnheit des Daseins verleitet zu einem wegwerfenden Urtheil, das um so Geister auftritt, da niemand die Thatsachen wegleugnen kann. Sklaverei, Sek¬ tenwesen, demokratische Rohheit, Eigennutz und Verwilderung, nüchterne Be¬ rechnung und tollkühne Schwindelei u. s. w., das alles sind Erscheinungen, die uns in Amerika zu häusig begegnen, als daß wir die relative Berechtigung eines solchen Eindrucks wegleugnen könnten. Namentlich die östlichen Staaten Amerikas machen, so jung sie sind, auf uns häusig den Eindruck einer bereits recht greisenhafter, in Verwilderung übergegangenen Cultur. Für die praktische ^'age, ob in jedem individuellen Fall die Auswanderung zu empfehlen sei oder n>ehe, ist hsxs^ Eindruck auch vollkommen ausreichend. Wer nicht im Stande seinen sittlichen Ueberlieferungen vollkommen zu entsagen, der bleibe der Neuen Welt fern. Aber wenn wir uns historisch verherrlichen wollen, wie diese Neue sittliche Welt entstanden ist, und waS für uns noch wichtiger sein muß, ^uf welche Lebenskraft man daraus schließen darf, so genug! der unmittelbare Ein- uck keineswegs. Nun gibt es aber keine so charakteristischen Momente für die , enntniß des amerikanischen Charakters, als die Entstehung neuer Ansiedlungen "n Urwald und im Kampf mit den Indianern. Wir lernen daraus nicht blos die ^)YIischen Umstände würdigen, welche der Thätigkeit des amerikanischen Geistes 'Ne bestimmte Richtung gaben, sondern wir erkennen daraus auch, was so häufig'N'ßverstanden wird, daß bereits ein vollständig ausgeprägter nationaler Charakter ^ amerikanischen Volke vorhanden ist; ein Charakter der höchsten Productivität Elasticität, der, wenn seine Ausgabe im Innern vollendet sein wird, nach 'per hi,, zu außerordentlichsten Eroberungen berufen ist. In der Be- 'Aderung dieser großen und schöpferischen historischen Kraft wird sich dann "es die Antipathie des unmittelbaren Eindrucks leicht verlieren. — Die Ge- ^ ste Daniel Bvones, des ersten Ansiedlers in Kentucky, gibt einen höchst "rakteMischen Beleg für diese Productivität, und bei der anschaulichen Aus- ei/?^' '"'t ^'r sie behandelt ist, werden wir zu sehr in die Mitte der Er- schx ^setzt, um noch Nebengedanken Raum geben zu können. Wir our- ^/N lebhaft, daß recht viele Episoden der amerikanischen Geschichte auf diese in,v>^ ^gestellt werden; sie würden für unsre Bildung nützlicher sein, als ein 'Wis so vorzügliches Werk wie die Geschichte von Bancroft, das aber über ^enzboten. in. iWi. 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/425>, abgerufen am 06.10.2024.