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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Dichter hat wahrscheinlich geglaubt, sie als ein reineres und idealeres Bild dar¬
zustellen, wenn er sie ihre Kränkungen ruhig ertragen, wenn er in ihr kein Gefühl
von Haß weder gegen Eduard noch gegen Ottilie aufkommen ließ. Aber es
wäre mehr Adel in ihr, wenn sie mehr die Fähigkeit des Hasses hätte., Es
wird in ihr weiter nichts gestört, als das Bedürfniß des Anstandes und der
Schicklichkeit. Sie liebt Eduard nicht, wenigstens nicht soweit, um durch seine
Untreue innerlich verletzt zu werden. Sie weiß, daß er ihr innerlich ganz
fremd geworden ist, sie selbst liebt einen andern, sie empfindet ihre Ehe als
eine unnatürliche und unsittliche, und doch sucht sie dieselbe um des Anstandes
willen aufrechtzuerhalten, solange es ohne zu große persönliche Unbequem¬
lichkeit geht. Ein solches Bemühen mag im wirklichen Leben sehr achtungswerth
sein, in der Poesie erregt es kein Interesse. Wo die Religion oder die Sitte
die Scheidung der Ehe verbietet, reibt sich Nothwendigkeit an Nothwendigkeit;
wo aber die Scheidung etwas so Leichtes ist, wie sie wenigstens für die vor¬
nehme Welt in diesem Romane dargestellt wird, da treten Erwägungen unter¬
geordneter Art ein, Erwägungen, die ganz und gar in das Gebiet der Prosa
gehören.

Es ist ganz sonderbar, daß sich Goethe fest davon überzeugt hielt, in
diesem Roman die Heiligkeit der Ehe vertreten zu haben. Es scheint su der
Dichtung wie im Leben sein Schicksal gewesen zu sein, bei aller scheinbaren
Fülle des Glücks nie das zu erreichen, was ihm als das Heiligste und Wün-
schenswertheste erschien. Seine schönsten Liebesverhältnisse störte schon in der
Jugend die Reflexion, die nie mit sich fertig werden konnte. Seine idealste
^>ehe war wenigstens nach den gewöhnlichen Begriffen eine unsittliche, die
Ehe, in der er endlich einen Hafen fand, eine unwürdige, und die stärkste Lei¬
denschaft erfaßte ihn, als er ein Greis war. In diesem Roman ist, was von
Eduard oder von den beiden leichtsinnigen Weltlenker, dem Baron und der
Baronesse gegen die Ehe gefrevelt wird, noch lange nicht so schlimm, als die
altkluge Art und Weise, wie Charlotte und ihr Freund, der Mittler, für dieselbe
>n die Schranken treten. Man male sich die Scene aus, in der Eduard und
Eharlotte unter dem Anschein der reinsten Legitimität einen geistigen Ehebruch
^'gehen, der an dem Kinde auf eine so seltsame Weise ans Tageslicht kommt.
Die Scene ist in Beziehung auf die Ausführung ein Meisterstück, sie zeigt uns
b"s Unerhörteste in lebendigster Gegenwart, aber sieht man sie näher an, so
'se sie abscheulich, ja entsetzlich; und wenn man sie als wirklich denkt, so hätte
ste in den beiden Betheiligten eine Mischung von Schauder und Ekel zurück-
^sten müssen, der die Fortdauer der Ehe unmöglich gemacht hätte. Aber we¬
nigstens bei Charlotte finden wir von diesen Ge/üblen keine Spur; und das
'se kein sehr günstiges Zeichen sür den Adel ihres Charakters. Sie denkt nur
das Schickliche und Zweckmäßige der Folge, nicht an das Unsittliche der


Dichter hat wahrscheinlich geglaubt, sie als ein reineres und idealeres Bild dar¬
zustellen, wenn er sie ihre Kränkungen ruhig ertragen, wenn er in ihr kein Gefühl
von Haß weder gegen Eduard noch gegen Ottilie aufkommen ließ. Aber es
wäre mehr Adel in ihr, wenn sie mehr die Fähigkeit des Hasses hätte., Es
wird in ihr weiter nichts gestört, als das Bedürfniß des Anstandes und der
Schicklichkeit. Sie liebt Eduard nicht, wenigstens nicht soweit, um durch seine
Untreue innerlich verletzt zu werden. Sie weiß, daß er ihr innerlich ganz
fremd geworden ist, sie selbst liebt einen andern, sie empfindet ihre Ehe als
eine unnatürliche und unsittliche, und doch sucht sie dieselbe um des Anstandes
willen aufrechtzuerhalten, solange es ohne zu große persönliche Unbequem¬
lichkeit geht. Ein solches Bemühen mag im wirklichen Leben sehr achtungswerth
sein, in der Poesie erregt es kein Interesse. Wo die Religion oder die Sitte
die Scheidung der Ehe verbietet, reibt sich Nothwendigkeit an Nothwendigkeit;
wo aber die Scheidung etwas so Leichtes ist, wie sie wenigstens für die vor¬
nehme Welt in diesem Romane dargestellt wird, da treten Erwägungen unter¬
geordneter Art ein, Erwägungen, die ganz und gar in das Gebiet der Prosa
gehören.

Es ist ganz sonderbar, daß sich Goethe fest davon überzeugt hielt, in
diesem Roman die Heiligkeit der Ehe vertreten zu haben. Es scheint su der
Dichtung wie im Leben sein Schicksal gewesen zu sein, bei aller scheinbaren
Fülle des Glücks nie das zu erreichen, was ihm als das Heiligste und Wün-
schenswertheste erschien. Seine schönsten Liebesverhältnisse störte schon in der
Jugend die Reflexion, die nie mit sich fertig werden konnte. Seine idealste
^>ehe war wenigstens nach den gewöhnlichen Begriffen eine unsittliche, die
Ehe, in der er endlich einen Hafen fand, eine unwürdige, und die stärkste Lei¬
denschaft erfaßte ihn, als er ein Greis war. In diesem Roman ist, was von
Eduard oder von den beiden leichtsinnigen Weltlenker, dem Baron und der
Baronesse gegen die Ehe gefrevelt wird, noch lange nicht so schlimm, als die
altkluge Art und Weise, wie Charlotte und ihr Freund, der Mittler, für dieselbe
>n die Schranken treten. Man male sich die Scene aus, in der Eduard und
Eharlotte unter dem Anschein der reinsten Legitimität einen geistigen Ehebruch
^'gehen, der an dem Kinde auf eine so seltsame Weise ans Tageslicht kommt.
Die Scene ist in Beziehung auf die Ausführung ein Meisterstück, sie zeigt uns
b"s Unerhörteste in lebendigster Gegenwart, aber sieht man sie näher an, so
'se sie abscheulich, ja entsetzlich; und wenn man sie als wirklich denkt, so hätte
ste in den beiden Betheiligten eine Mischung von Schauder und Ekel zurück-
^sten müssen, der die Fortdauer der Ehe unmöglich gemacht hätte. Aber we¬
nigstens bei Charlotte finden wir von diesen Ge/üblen keine Spur; und das
'se kein sehr günstiges Zeichen sür den Adel ihres Charakters. Sie denkt nur
das Schickliche und Zweckmäßige der Folge, nicht an das Unsittliche der


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[0341] Dichter hat wahrscheinlich geglaubt, sie als ein reineres und idealeres Bild dar¬ zustellen, wenn er sie ihre Kränkungen ruhig ertragen, wenn er in ihr kein Gefühl von Haß weder gegen Eduard noch gegen Ottilie aufkommen ließ. Aber es wäre mehr Adel in ihr, wenn sie mehr die Fähigkeit des Hasses hätte., Es wird in ihr weiter nichts gestört, als das Bedürfniß des Anstandes und der Schicklichkeit. Sie liebt Eduard nicht, wenigstens nicht soweit, um durch seine Untreue innerlich verletzt zu werden. Sie weiß, daß er ihr innerlich ganz fremd geworden ist, sie selbst liebt einen andern, sie empfindet ihre Ehe als eine unnatürliche und unsittliche, und doch sucht sie dieselbe um des Anstandes willen aufrechtzuerhalten, solange es ohne zu große persönliche Unbequem¬ lichkeit geht. Ein solches Bemühen mag im wirklichen Leben sehr achtungswerth sein, in der Poesie erregt es kein Interesse. Wo die Religion oder die Sitte die Scheidung der Ehe verbietet, reibt sich Nothwendigkeit an Nothwendigkeit; wo aber die Scheidung etwas so Leichtes ist, wie sie wenigstens für die vor¬ nehme Welt in diesem Romane dargestellt wird, da treten Erwägungen unter¬ geordneter Art ein, Erwägungen, die ganz und gar in das Gebiet der Prosa gehören. Es ist ganz sonderbar, daß sich Goethe fest davon überzeugt hielt, in diesem Roman die Heiligkeit der Ehe vertreten zu haben. Es scheint su der Dichtung wie im Leben sein Schicksal gewesen zu sein, bei aller scheinbaren Fülle des Glücks nie das zu erreichen, was ihm als das Heiligste und Wün- schenswertheste erschien. Seine schönsten Liebesverhältnisse störte schon in der Jugend die Reflexion, die nie mit sich fertig werden konnte. Seine idealste ^>ehe war wenigstens nach den gewöhnlichen Begriffen eine unsittliche, die Ehe, in der er endlich einen Hafen fand, eine unwürdige, und die stärkste Lei¬ denschaft erfaßte ihn, als er ein Greis war. In diesem Roman ist, was von Eduard oder von den beiden leichtsinnigen Weltlenker, dem Baron und der Baronesse gegen die Ehe gefrevelt wird, noch lange nicht so schlimm, als die altkluge Art und Weise, wie Charlotte und ihr Freund, der Mittler, für dieselbe >n die Schranken treten. Man male sich die Scene aus, in der Eduard und Eharlotte unter dem Anschein der reinsten Legitimität einen geistigen Ehebruch ^'gehen, der an dem Kinde auf eine so seltsame Weise ans Tageslicht kommt. Die Scene ist in Beziehung auf die Ausführung ein Meisterstück, sie zeigt uns b"s Unerhörteste in lebendigster Gegenwart, aber sieht man sie näher an, so 'se sie abscheulich, ja entsetzlich; und wenn man sie als wirklich denkt, so hätte ste in den beiden Betheiligten eine Mischung von Schauder und Ekel zurück- ^sten müssen, der die Fortdauer der Ehe unmöglich gemacht hätte. Aber we¬ nigstens bei Charlotte finden wir von diesen Ge/üblen keine Spur; und das 'se kein sehr günstiges Zeichen sür den Adel ihres Charakters. Sie denkt nur das Schickliche und Zweckmäßige der Folge, nicht an das Unsittliche der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/341>, abgerufen am 01.09.2024.