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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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höher steht, doch eigentlich nur in der prägmatisirendcn, rationalistischen Weise
Rottecks und Welckers seine Quellen untersucht.

Ein zweites Bedeuten bezieht sich auf die künstlerische Komposition. Das
18, Jahrhundert ist ein weitumfassender und unbestimmter Begriff. Wenn man
eine organische Einheit daraus bilden will, so Muß man mit dem westfälischen
Frieden anfangen und entweder mit dem Ausbruch der Revolutionskriege oder
noch besser mit dem zweiten Pariser Frieden schließen. Ungefähr hat sich das
der Verfasser auch so gedacht; aber er hat es nicht versucht, in diese Masse
eine historische Gliederung zu bringen. Jener Zeitraum ist doch nicht ganz
ohne innere Entwicklung gewesen, aber hier gehen die verschiedenen Perioden
ziemlich bunt durcheinander. Wir sind kaum über die NechtSbestimmnngen des
westphälischen Friedens hinaus, als wir schon auf den üblen Einfluß auf¬
merksam gemacht werden, den die Dichterschule von Weimar auf den deutschen
Patriotismus ausgeübt hat, ' Dieser Uebelstand kann nur aus eine Weise besei¬
tigt werden, nämlich dadurch, daß die Schilderungen von Zuständen in die
eigentliche Geschichte verwebt werden. Daß so etwas nicht unmöglich ist, hat
Macaulay gezeigt. An einem bestimmten Wendepunkt muß der Geschicht¬
schreiber in dem Laufe seiner Erzählung anhalten, sich in dem Raume, den er
durchmessen hat, umsehen und den Leser darüber orientiren. Die Geschichte
bietet solche Ruhepunkte in hinreichender Anzahl, um die stufenweise Ent¬
wicklung des öffentlichen Lebens, soweit es uns die Forschung vermittelt, voll¬
kommen gegenwärtig zu machen; ohne diesen Leitfaden der Geschichte zerfallen
'diese Zustände in eine unförmliche Masse, die sich jeder bestimmten Physiog¬
nomie, jeder festen Gestalt entzieht.

Endlich liegt in der Geradheit und Ehrlichkeit, in jenem phantasieloser,
gesunden Menschenverstand, der Herrn Biedermann in seinen politischen An¬
sichten auszeichnet, keine besondere Befähigung zur Geschichtschreibung. Der
Geschichtschreiber muß fähig sein, einmal in die Gegenstände ohne Neben¬
gedanken aufzugehen; und dazu gehört Reichthum und Lebendigkeit der Phan¬
tasie. Das gegenwärtige Buch macht mehr den Eindruck einer Philippina
gegen die verkehrten Einrichtungen Deutschlands, als einer historischen Dar¬
stellung. Um den Zuständen des vorigen Jahrhunderts gerecht zu werden,
muß man sie mit Humor aufzufassen und darzustellen wissen, ein Humor,
der den Ernst der Gesinnung keineswegs ausschließt, der aber möcht jede That¬
sache als ein neues Document des Processes auffaßt.

Wir glauben mit dieser kurzen Andeutung die Grenze, bis zu welcher die
Berechtigung des Buches geht, so unparteiisch als möglich festgestellt zu haben;
wir möchten nur noch in Beziehung auf den zu erwartenden zweiten Band
eine Warnung hinzufügen; derselbe soll die geselligen, sittlichen, wissenschaft¬
lichen, religiösen, pädagogischen, künstlerischen und literarischen Zustände


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höher steht, doch eigentlich nur in der prägmatisirendcn, rationalistischen Weise
Rottecks und Welckers seine Quellen untersucht.

Ein zweites Bedeuten bezieht sich auf die künstlerische Komposition. Das
18, Jahrhundert ist ein weitumfassender und unbestimmter Begriff. Wenn man
eine organische Einheit daraus bilden will, so Muß man mit dem westfälischen
Frieden anfangen und entweder mit dem Ausbruch der Revolutionskriege oder
noch besser mit dem zweiten Pariser Frieden schließen. Ungefähr hat sich das
der Verfasser auch so gedacht; aber er hat es nicht versucht, in diese Masse
eine historische Gliederung zu bringen. Jener Zeitraum ist doch nicht ganz
ohne innere Entwicklung gewesen, aber hier gehen die verschiedenen Perioden
ziemlich bunt durcheinander. Wir sind kaum über die NechtSbestimmnngen des
westphälischen Friedens hinaus, als wir schon auf den üblen Einfluß auf¬
merksam gemacht werden, den die Dichterschule von Weimar auf den deutschen
Patriotismus ausgeübt hat, ' Dieser Uebelstand kann nur aus eine Weise besei¬
tigt werden, nämlich dadurch, daß die Schilderungen von Zuständen in die
eigentliche Geschichte verwebt werden. Daß so etwas nicht unmöglich ist, hat
Macaulay gezeigt. An einem bestimmten Wendepunkt muß der Geschicht¬
schreiber in dem Laufe seiner Erzählung anhalten, sich in dem Raume, den er
durchmessen hat, umsehen und den Leser darüber orientiren. Die Geschichte
bietet solche Ruhepunkte in hinreichender Anzahl, um die stufenweise Ent¬
wicklung des öffentlichen Lebens, soweit es uns die Forschung vermittelt, voll¬
kommen gegenwärtig zu machen; ohne diesen Leitfaden der Geschichte zerfallen
'diese Zustände in eine unförmliche Masse, die sich jeder bestimmten Physiog¬
nomie, jeder festen Gestalt entzieht.

Endlich liegt in der Geradheit und Ehrlichkeit, in jenem phantasieloser,
gesunden Menschenverstand, der Herrn Biedermann in seinen politischen An¬
sichten auszeichnet, keine besondere Befähigung zur Geschichtschreibung. Der
Geschichtschreiber muß fähig sein, einmal in die Gegenstände ohne Neben¬
gedanken aufzugehen; und dazu gehört Reichthum und Lebendigkeit der Phan¬
tasie. Das gegenwärtige Buch macht mehr den Eindruck einer Philippina
gegen die verkehrten Einrichtungen Deutschlands, als einer historischen Dar¬
stellung. Um den Zuständen des vorigen Jahrhunderts gerecht zu werden,
muß man sie mit Humor aufzufassen und darzustellen wissen, ein Humor,
der den Ernst der Gesinnung keineswegs ausschließt, der aber möcht jede That¬
sache als ein neues Document des Processes auffaßt.

Wir glauben mit dieser kurzen Andeutung die Grenze, bis zu welcher die
Berechtigung des Buches geht, so unparteiisch als möglich festgestellt zu haben;
wir möchten nur noch in Beziehung auf den zu erwartenden zweiten Band
eine Warnung hinzufügen; derselbe soll die geselligen, sittlichen, wissenschaft¬
lichen, religiösen, pädagogischen, künstlerischen und literarischen Zustände


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[0131] höher steht, doch eigentlich nur in der prägmatisirendcn, rationalistischen Weise Rottecks und Welckers seine Quellen untersucht. Ein zweites Bedeuten bezieht sich auf die künstlerische Komposition. Das 18, Jahrhundert ist ein weitumfassender und unbestimmter Begriff. Wenn man eine organische Einheit daraus bilden will, so Muß man mit dem westfälischen Frieden anfangen und entweder mit dem Ausbruch der Revolutionskriege oder noch besser mit dem zweiten Pariser Frieden schließen. Ungefähr hat sich das der Verfasser auch so gedacht; aber er hat es nicht versucht, in diese Masse eine historische Gliederung zu bringen. Jener Zeitraum ist doch nicht ganz ohne innere Entwicklung gewesen, aber hier gehen die verschiedenen Perioden ziemlich bunt durcheinander. Wir sind kaum über die NechtSbestimmnngen des westphälischen Friedens hinaus, als wir schon auf den üblen Einfluß auf¬ merksam gemacht werden, den die Dichterschule von Weimar auf den deutschen Patriotismus ausgeübt hat, ' Dieser Uebelstand kann nur aus eine Weise besei¬ tigt werden, nämlich dadurch, daß die Schilderungen von Zuständen in die eigentliche Geschichte verwebt werden. Daß so etwas nicht unmöglich ist, hat Macaulay gezeigt. An einem bestimmten Wendepunkt muß der Geschicht¬ schreiber in dem Laufe seiner Erzählung anhalten, sich in dem Raume, den er durchmessen hat, umsehen und den Leser darüber orientiren. Die Geschichte bietet solche Ruhepunkte in hinreichender Anzahl, um die stufenweise Ent¬ wicklung des öffentlichen Lebens, soweit es uns die Forschung vermittelt, voll¬ kommen gegenwärtig zu machen; ohne diesen Leitfaden der Geschichte zerfallen 'diese Zustände in eine unförmliche Masse, die sich jeder bestimmten Physiog¬ nomie, jeder festen Gestalt entzieht. Endlich liegt in der Geradheit und Ehrlichkeit, in jenem phantasieloser, gesunden Menschenverstand, der Herrn Biedermann in seinen politischen An¬ sichten auszeichnet, keine besondere Befähigung zur Geschichtschreibung. Der Geschichtschreiber muß fähig sein, einmal in die Gegenstände ohne Neben¬ gedanken aufzugehen; und dazu gehört Reichthum und Lebendigkeit der Phan¬ tasie. Das gegenwärtige Buch macht mehr den Eindruck einer Philippina gegen die verkehrten Einrichtungen Deutschlands, als einer historischen Dar¬ stellung. Um den Zuständen des vorigen Jahrhunderts gerecht zu werden, muß man sie mit Humor aufzufassen und darzustellen wissen, ein Humor, der den Ernst der Gesinnung keineswegs ausschließt, der aber möcht jede That¬ sache als ein neues Document des Processes auffaßt. Wir glauben mit dieser kurzen Andeutung die Grenze, bis zu welcher die Berechtigung des Buches geht, so unparteiisch als möglich festgestellt zu haben; wir möchten nur noch in Beziehung auf den zu erwartenden zweiten Band eine Warnung hinzufügen; derselbe soll die geselligen, sittlichen, wissenschaft¬ lichen, religiösen, pädagogischen, künstlerischen und literarischen Zustände ik*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/131>, abgerufen am 27.07.2024.