Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gerstandes wieder vor. Hier ist ein Feld der Beobachtung, das von unsren Ro-
manschreibern noch lange nicht genug ausgebeutet ist. Die großen Welthändel
und die höhere Poesie haben unsre Aufmerksamkeit solange beschäftigt, daß wir
darüber ganz vergessen haben, wie einförmig und physiognomielos alle diese
Dinge im Roman aussehen. Dagegen ist in dem Privatleben der verschiedenen
Stände und Schichten der Gesellschaft noch soviel stille Poesie verborgen, daß
ein Dichter, der zugleich Wärme des Gemüths und humoristische Freiheit be¬
sitzt, in dieser stillen Welt einen Schacht der Poesie entdecken wird, Kr sich
viel ausgiebiger erweisen würde, als die beliebten Dorfgeschichten, weil er
nicht so einseitig ist. Einzelne Darstellungen aus dem Philisterleben der kleinen
Städte sind unsrem Dichter vortrefflich gelungen, wenn man ihnen auch hin
und wieder anmerkt, daß sie nicht aus vollem Holze geschnitzt sind. Er hat
entschieden das Talent, charakteristische Verschiedenheiten lebhast und ein¬
dringlich hinzustellen. Aber diese Elemente nun so zu verbinden, daß ein
interessanter Eindruck daraus hervorginge, diese Mühe hat er sich nicht gemacht.
Er fädelt Intriguen ein und läßt sie dann wieder fallen; er macht uns auf
merkwürdige Charakterzüge einzelner Personen aufmerksam, deren weitere Ent¬
wicklung wir mit einer gewissen Spannung erwarten, und bricht dann plötzlich
ab oder läßt eine Verwandlung eintreten, deren Grund uns nicht klar wird.
Am ungenügendsten aber erscheint uns die moralische Grundanschauung. Der
Verfasser macht uns mehrmals auf den Conflict zwischen der unmittelbaren
Stimme des Herzens und den weltlichen Rücksichten aufmerksam, aber der Aus¬
gang, den er findet, befriedigt uns nicht. Der Held des'Romans, ein junger,
unternehmender und ehrgeiziger Kaufmann, hat eine übrigens nicht sehr starke
Neigung zu einer unbemittelten Cousine, die ihn wieder liebt, aber auch nicht
grade mit besonderer Stärke, denn sie heirathet später einen andern und wird
mit demselben ganz glücklich. Nun tritt er in das Geschäft eines reichen
Kaufmanns, der ihn mit väterlichem Wohlwollen ausnimmt und gleich von
vornherein die Idee faßt, ihn mit seiner Tochter zu verheirathen. Diese Tochter
ist schon, geistreich, interessant, als verzogenes Kind zwar etwas eigenwillig
und hochmüthig, aber doch von gutem Fond. Sie verliebt sich in den jungen,
hübschen Commis, der ihr imponirt und sogar ihre Eifersucht rege zu machen
weiß. Er glaubt im Anfang mit ihr spielen zu können, kommt aber doch
später zu der Einsicht, daß sie eine starke moralische Kraft besitzt und verliebt
sich ernstlich in sie. Sie heirathen sich und da nun alle Welt glücklich versorgt
ist, so sollte man denken, der Dichter und sein Held wären auch vollkommen zufrie¬
den. Aber nein. Der Held fühlt sich unglücklich, und der Dichter ist geneigt, ihn
für eine Art Scheusal zu halten, weil er nicht die arme Cousine, sondern die
reiche Erbin geheirathet hat. Das scheint uns eine Empfindsamkeitsmoral zu
sein, die sehr hohe Anforderungen stellt, um sich der gewöhnlichen, alltäglichen


Grenzboten. III. -I8se. 43

gerstandes wieder vor. Hier ist ein Feld der Beobachtung, das von unsren Ro-
manschreibern noch lange nicht genug ausgebeutet ist. Die großen Welthändel
und die höhere Poesie haben unsre Aufmerksamkeit solange beschäftigt, daß wir
darüber ganz vergessen haben, wie einförmig und physiognomielos alle diese
Dinge im Roman aussehen. Dagegen ist in dem Privatleben der verschiedenen
Stände und Schichten der Gesellschaft noch soviel stille Poesie verborgen, daß
ein Dichter, der zugleich Wärme des Gemüths und humoristische Freiheit be¬
sitzt, in dieser stillen Welt einen Schacht der Poesie entdecken wird, Kr sich
viel ausgiebiger erweisen würde, als die beliebten Dorfgeschichten, weil er
nicht so einseitig ist. Einzelne Darstellungen aus dem Philisterleben der kleinen
Städte sind unsrem Dichter vortrefflich gelungen, wenn man ihnen auch hin
und wieder anmerkt, daß sie nicht aus vollem Holze geschnitzt sind. Er hat
entschieden das Talent, charakteristische Verschiedenheiten lebhast und ein¬
dringlich hinzustellen. Aber diese Elemente nun so zu verbinden, daß ein
interessanter Eindruck daraus hervorginge, diese Mühe hat er sich nicht gemacht.
Er fädelt Intriguen ein und läßt sie dann wieder fallen; er macht uns auf
merkwürdige Charakterzüge einzelner Personen aufmerksam, deren weitere Ent¬
wicklung wir mit einer gewissen Spannung erwarten, und bricht dann plötzlich
ab oder läßt eine Verwandlung eintreten, deren Grund uns nicht klar wird.
Am ungenügendsten aber erscheint uns die moralische Grundanschauung. Der
Verfasser macht uns mehrmals auf den Conflict zwischen der unmittelbaren
Stimme des Herzens und den weltlichen Rücksichten aufmerksam, aber der Aus¬
gang, den er findet, befriedigt uns nicht. Der Held des'Romans, ein junger,
unternehmender und ehrgeiziger Kaufmann, hat eine übrigens nicht sehr starke
Neigung zu einer unbemittelten Cousine, die ihn wieder liebt, aber auch nicht
grade mit besonderer Stärke, denn sie heirathet später einen andern und wird
mit demselben ganz glücklich. Nun tritt er in das Geschäft eines reichen
Kaufmanns, der ihn mit väterlichem Wohlwollen ausnimmt und gleich von
vornherein die Idee faßt, ihn mit seiner Tochter zu verheirathen. Diese Tochter
ist schon, geistreich, interessant, als verzogenes Kind zwar etwas eigenwillig
und hochmüthig, aber doch von gutem Fond. Sie verliebt sich in den jungen,
hübschen Commis, der ihr imponirt und sogar ihre Eifersucht rege zu machen
weiß. Er glaubt im Anfang mit ihr spielen zu können, kommt aber doch
später zu der Einsicht, daß sie eine starke moralische Kraft besitzt und verliebt
sich ernstlich in sie. Sie heirathen sich und da nun alle Welt glücklich versorgt
ist, so sollte man denken, der Dichter und sein Held wären auch vollkommen zufrie¬
den. Aber nein. Der Held fühlt sich unglücklich, und der Dichter ist geneigt, ihn
für eine Art Scheusal zu halten, weil er nicht die arme Cousine, sondern die
reiche Erbin geheirathet hat. Das scheint uns eine Empfindsamkeitsmoral zu
sein, die sehr hohe Anforderungen stellt, um sich der gewöhnlichen, alltäglichen


Grenzboten. III. -I8se. 43
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281256"/>
            <p xml:id="ID_314" prev="#ID_313" next="#ID_315"> gerstandes wieder vor. Hier ist ein Feld der Beobachtung, das von unsren Ro-<lb/>
manschreibern noch lange nicht genug ausgebeutet ist. Die großen Welthändel<lb/>
und die höhere Poesie haben unsre Aufmerksamkeit solange beschäftigt, daß wir<lb/>
darüber ganz vergessen haben, wie einförmig und physiognomielos alle diese<lb/>
Dinge im Roman aussehen. Dagegen ist in dem Privatleben der verschiedenen<lb/>
Stände und Schichten der Gesellschaft noch soviel stille Poesie verborgen, daß<lb/>
ein Dichter, der zugleich Wärme des Gemüths und humoristische Freiheit be¬<lb/>
sitzt, in dieser stillen Welt einen Schacht der Poesie entdecken wird, Kr sich<lb/>
viel ausgiebiger erweisen würde, als die beliebten Dorfgeschichten, weil er<lb/>
nicht so einseitig ist. Einzelne Darstellungen aus dem Philisterleben der kleinen<lb/>
Städte sind unsrem Dichter vortrefflich gelungen, wenn man ihnen auch hin<lb/>
und wieder anmerkt, daß sie nicht aus vollem Holze geschnitzt sind. Er hat<lb/>
entschieden das Talent, charakteristische Verschiedenheiten lebhast und ein¬<lb/>
dringlich hinzustellen. Aber diese Elemente nun so zu verbinden, daß ein<lb/>
interessanter Eindruck daraus hervorginge, diese Mühe hat er sich nicht gemacht.<lb/>
Er fädelt Intriguen ein und läßt sie dann wieder fallen; er macht uns auf<lb/>
merkwürdige Charakterzüge einzelner Personen aufmerksam, deren weitere Ent¬<lb/>
wicklung wir mit einer gewissen Spannung erwarten, und bricht dann plötzlich<lb/>
ab oder läßt eine Verwandlung eintreten, deren Grund uns nicht klar wird.<lb/>
Am ungenügendsten aber erscheint uns die moralische Grundanschauung. Der<lb/>
Verfasser macht uns mehrmals auf den Conflict zwischen der unmittelbaren<lb/>
Stimme des Herzens und den weltlichen Rücksichten aufmerksam, aber der Aus¬<lb/>
gang, den er findet, befriedigt uns nicht. Der Held des'Romans, ein junger,<lb/>
unternehmender und ehrgeiziger Kaufmann, hat eine übrigens nicht sehr starke<lb/>
Neigung zu einer unbemittelten Cousine, die ihn wieder liebt, aber auch nicht<lb/>
grade mit besonderer Stärke, denn sie heirathet später einen andern und wird<lb/>
mit demselben ganz glücklich. Nun tritt er in das Geschäft eines reichen<lb/>
Kaufmanns, der ihn mit väterlichem Wohlwollen ausnimmt und gleich von<lb/>
vornherein die Idee faßt, ihn mit seiner Tochter zu verheirathen. Diese Tochter<lb/>
ist schon, geistreich, interessant, als verzogenes Kind zwar etwas eigenwillig<lb/>
und hochmüthig, aber doch von gutem Fond. Sie verliebt sich in den jungen,<lb/>
hübschen Commis, der ihr imponirt und sogar ihre Eifersucht rege zu machen<lb/>
weiß. Er glaubt im Anfang mit ihr spielen zu können, kommt aber doch<lb/>
später zu der Einsicht, daß sie eine starke moralische Kraft besitzt und verliebt<lb/>
sich ernstlich in sie. Sie heirathen sich und da nun alle Welt glücklich versorgt<lb/>
ist, so sollte man denken, der Dichter und sein Held wären auch vollkommen zufrie¬<lb/>
den. Aber nein. Der Held fühlt sich unglücklich, und der Dichter ist geneigt, ihn<lb/>
für eine Art Scheusal zu halten, weil er nicht die arme Cousine, sondern die<lb/>
reiche Erbin geheirathet hat. Das scheint uns eine Empfindsamkeitsmoral zu<lb/>
sein, die sehr hohe Anforderungen stellt, um sich der gewöhnlichen, alltäglichen</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. III. -I8se. 43</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0105] gerstandes wieder vor. Hier ist ein Feld der Beobachtung, das von unsren Ro- manschreibern noch lange nicht genug ausgebeutet ist. Die großen Welthändel und die höhere Poesie haben unsre Aufmerksamkeit solange beschäftigt, daß wir darüber ganz vergessen haben, wie einförmig und physiognomielos alle diese Dinge im Roman aussehen. Dagegen ist in dem Privatleben der verschiedenen Stände und Schichten der Gesellschaft noch soviel stille Poesie verborgen, daß ein Dichter, der zugleich Wärme des Gemüths und humoristische Freiheit be¬ sitzt, in dieser stillen Welt einen Schacht der Poesie entdecken wird, Kr sich viel ausgiebiger erweisen würde, als die beliebten Dorfgeschichten, weil er nicht so einseitig ist. Einzelne Darstellungen aus dem Philisterleben der kleinen Städte sind unsrem Dichter vortrefflich gelungen, wenn man ihnen auch hin und wieder anmerkt, daß sie nicht aus vollem Holze geschnitzt sind. Er hat entschieden das Talent, charakteristische Verschiedenheiten lebhast und ein¬ dringlich hinzustellen. Aber diese Elemente nun so zu verbinden, daß ein interessanter Eindruck daraus hervorginge, diese Mühe hat er sich nicht gemacht. Er fädelt Intriguen ein und läßt sie dann wieder fallen; er macht uns auf merkwürdige Charakterzüge einzelner Personen aufmerksam, deren weitere Ent¬ wicklung wir mit einer gewissen Spannung erwarten, und bricht dann plötzlich ab oder läßt eine Verwandlung eintreten, deren Grund uns nicht klar wird. Am ungenügendsten aber erscheint uns die moralische Grundanschauung. Der Verfasser macht uns mehrmals auf den Conflict zwischen der unmittelbaren Stimme des Herzens und den weltlichen Rücksichten aufmerksam, aber der Aus¬ gang, den er findet, befriedigt uns nicht. Der Held des'Romans, ein junger, unternehmender und ehrgeiziger Kaufmann, hat eine übrigens nicht sehr starke Neigung zu einer unbemittelten Cousine, die ihn wieder liebt, aber auch nicht grade mit besonderer Stärke, denn sie heirathet später einen andern und wird mit demselben ganz glücklich. Nun tritt er in das Geschäft eines reichen Kaufmanns, der ihn mit väterlichem Wohlwollen ausnimmt und gleich von vornherein die Idee faßt, ihn mit seiner Tochter zu verheirathen. Diese Tochter ist schon, geistreich, interessant, als verzogenes Kind zwar etwas eigenwillig und hochmüthig, aber doch von gutem Fond. Sie verliebt sich in den jungen, hübschen Commis, der ihr imponirt und sogar ihre Eifersucht rege zu machen weiß. Er glaubt im Anfang mit ihr spielen zu können, kommt aber doch später zu der Einsicht, daß sie eine starke moralische Kraft besitzt und verliebt sich ernstlich in sie. Sie heirathen sich und da nun alle Welt glücklich versorgt ist, so sollte man denken, der Dichter und sein Held wären auch vollkommen zufrie¬ den. Aber nein. Der Held fühlt sich unglücklich, und der Dichter ist geneigt, ihn für eine Art Scheusal zu halten, weil er nicht die arme Cousine, sondern die reiche Erbin geheirathet hat. Das scheint uns eine Empfindsamkeitsmoral zu sein, die sehr hohe Anforderungen stellt, um sich der gewöhnlichen, alltäglichen Grenzboten. III. -I8se. 43

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/105
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/105>, abgerufen am 08.01.2025.