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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Poren. Aber das geschieht nie, er läßt die absurdesten Consequenzen gelte",
oder entledigt sich seiner Pflicht mit ein paar lichten Bemerkungen. Das macht
oft einen komische" Eindruck/ aber es hat anch seine sehr ernste Seite, denn es
verräth eine Unsicherheit des moralischen Urtheils, d. h. der sittlichen Gesinnung,
die wir in unserer neuen Literatur uur zu häufig antreffen. Das viele Reflec-
tiren hat die Fähigkeit des heiligen Zorns in uns erstickt, es ist als ob wir
Fischblut im Herzen hätten.

Die Kunstform des Werks ist sehr schwach, man fühlt das recht heraus, wenn
man es mit Rankes "Päpsten" vergleicht, die eine" verwandten aber eigentlich
viel schwierigern Gegenstand behandelt. Oekonomie und Architektonik, dem Ge¬
schichtschreiber ebenso nothwendig als dem dramatischen Dichter, fehlt bei Hurter
ganz. Er ordnet sein Material wie eine Chronik, von Jahr zu Jahr, er ist ab¬
hängig von den Daten, und denkt nicht daran, die verknüpfenden Fäden deutlich
hervortreten zu lassen, eine Auswahl in den Thatsachen zu treffe", wodurch das
Wesentliche bedeutender und anschaulicher hervortrete, und das Zusammengehörige
in der Form eines Bildes zu gruppiren. So hätte sich z. B. die Geschichte der
Ingeborg, die einen sehr großen Theil des Werks ausfüllt, fast novellistisch ab¬
runden lassen, aber wir empfangen nur das ungegliederte Material, verworren,
breit, phystognvmieloö und daher langweilig; wir kommen nicht vorwärts. Wenn
man blos nach den Daten geht, schreibt mau keine Geschichte; der historische Künst¬
ler muß ebenso über die gemeine Zeitmessung hinaus sein, wie der Poet, nament¬
lich bei einem Stoff, der seiner Natur nach eine sehr energische Architektonik
nothwendig macht. -- I" de" beiden'letzten Bänden, welche die kirchlichen Zustände
im allgemeinen behandeln, ist zwar ein sehr reichhaltiges Material, dem man fast
den N"hin der Vollständigkeit zuschreiben kann, und sie sind insofern sehr unter-
richtend; aber es ist geistlos dargestellt, nach äußerlichen Motiven geordnet, und
man wird doch nicht dnrch kritische Strenge für den Mangel an Darstellung ent¬
schädigt. Es hätte Hurter nicht geschadet, wenn er sich mehr um die deutsche
Philosophie bekümmert, und von ihr einige höhere Gesichtspunkte entlehnt hätte.

Wenn die höhere Weihe der Kunst fehlt, so merkt man dagegen überall,
namentlich in de" eigentlichen Schilderungen, den Einfluß des historische" Romans.
Manches, z. B. die Schilderung der Peterskirche, die Ausmalung eines Inter-
dicts n. s. w., könnte sehr gut sei", denn Farbe und Material ist im Uebermaß
vorhanden, aber man hat zu wenig den Eindruck der Bildung, die anch in solchen
Schilderungen uns das Gefühl der Freiheit geben muß, jener gelinden, uicht ro¬
mantische" Ironie, mit der sich z. B. W. Scott von seinem Gegenstand unterscheidet.
"Erröthend gab die schöne Braut die Zusage u. s. w.", wenn von einer Con-
venienzheirath die Rede ist, dergleichen verstimmt; dabei ist die Sprache höchst
roh und ungebildet, oft breit und-schwülstig der Satzbau ""geschickt, die Effecte
ganz ins Grobe gearbeitet, das begleitende Räsonnement matt und trivial, ganz


Grenzboten, IV. I8ä3> 12

Poren. Aber das geschieht nie, er läßt die absurdesten Consequenzen gelte»,
oder entledigt sich seiner Pflicht mit ein paar lichten Bemerkungen. Das macht
oft einen komische» Eindruck/ aber es hat anch seine sehr ernste Seite, denn es
verräth eine Unsicherheit des moralischen Urtheils, d. h. der sittlichen Gesinnung,
die wir in unserer neuen Literatur uur zu häufig antreffen. Das viele Reflec-
tiren hat die Fähigkeit des heiligen Zorns in uns erstickt, es ist als ob wir
Fischblut im Herzen hätten.

Die Kunstform des Werks ist sehr schwach, man fühlt das recht heraus, wenn
man es mit Rankes „Päpsten" vergleicht, die eine» verwandten aber eigentlich
viel schwierigern Gegenstand behandelt. Oekonomie und Architektonik, dem Ge¬
schichtschreiber ebenso nothwendig als dem dramatischen Dichter, fehlt bei Hurter
ganz. Er ordnet sein Material wie eine Chronik, von Jahr zu Jahr, er ist ab¬
hängig von den Daten, und denkt nicht daran, die verknüpfenden Fäden deutlich
hervortreten zu lassen, eine Auswahl in den Thatsachen zu treffe», wodurch das
Wesentliche bedeutender und anschaulicher hervortrete, und das Zusammengehörige
in der Form eines Bildes zu gruppiren. So hätte sich z. B. die Geschichte der
Ingeborg, die einen sehr großen Theil des Werks ausfüllt, fast novellistisch ab¬
runden lassen, aber wir empfangen nur das ungegliederte Material, verworren,
breit, phystognvmieloö und daher langweilig; wir kommen nicht vorwärts. Wenn
man blos nach den Daten geht, schreibt mau keine Geschichte; der historische Künst¬
ler muß ebenso über die gemeine Zeitmessung hinaus sein, wie der Poet, nament¬
lich bei einem Stoff, der seiner Natur nach eine sehr energische Architektonik
nothwendig macht. — I» de» beiden'letzten Bänden, welche die kirchlichen Zustände
im allgemeinen behandeln, ist zwar ein sehr reichhaltiges Material, dem man fast
den N»hin der Vollständigkeit zuschreiben kann, und sie sind insofern sehr unter-
richtend; aber es ist geistlos dargestellt, nach äußerlichen Motiven geordnet, und
man wird doch nicht dnrch kritische Strenge für den Mangel an Darstellung ent¬
schädigt. Es hätte Hurter nicht geschadet, wenn er sich mehr um die deutsche
Philosophie bekümmert, und von ihr einige höhere Gesichtspunkte entlehnt hätte.

Wenn die höhere Weihe der Kunst fehlt, so merkt man dagegen überall,
namentlich in de» eigentlichen Schilderungen, den Einfluß des historische» Romans.
Manches, z. B. die Schilderung der Peterskirche, die Ausmalung eines Inter-
dicts n. s. w., könnte sehr gut sei», denn Farbe und Material ist im Uebermaß
vorhanden, aber man hat zu wenig den Eindruck der Bildung, die anch in solchen
Schilderungen uns das Gefühl der Freiheit geben muß, jener gelinden, uicht ro¬
mantische» Ironie, mit der sich z. B. W. Scott von seinem Gegenstand unterscheidet.
„Erröthend gab die schöne Braut die Zusage u. s. w.", wenn von einer Con-
venienzheirath die Rede ist, dergleichen verstimmt; dabei ist die Sprache höchst
roh und ungebildet, oft breit und-schwülstig der Satzbau »»geschickt, die Effecte
ganz ins Grobe gearbeitet, das begleitende Räsonnement matt und trivial, ganz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/97>, abgerufen am 05.02.2025.