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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Zerbino der arme Nestor, der Repräsentant des deutschen Spießbürgers, abgetrumpft,
als er die katholische Kirche zu lästern wagt! Nicht vom Standpunkt der Bigot¬
terie, sondern der feinen Bildung, die alles geschmacklos fand, was keinen Haut¬
gout hatte. Die andern Propheten, z. B. Adam Müller, haben weniger Ein¬
fluß gehabt; sie waren zu geziert, zu wenig handgreiflich; auch Haller nicht mit
seiner "Restauration der Staatswissenschaften" (1816 u. s. w,), wenn auch man¬
ches von seinen Ideen durch die reactionären Zeitschriften dem öffentlichen Bewußt¬
sein eingeprägt wurde. Das Buch ist viel besprochen, aber wenig gelesen, und
mit Recht, denn es ist von einer entsetzlichen Langweiligkeit, und man hat nur
nöthig, einige hundert Seiten darin zu lesen, um deu wesentlichen Inhalt der ge¬
stimmten fünf dicken Bände sich anzueignen. Wie rasch aber eine neue Idee sich
der öffentlichen Meinung einschmeichelt, wird man erkennen, wenn man in Beckers
Weltgeschichte das Capitel über Gregor VlI. nachschlägt. Das Buch, ursprüng¬
lich (1801 -- 3) sür Kinder berechnet, grade wie die gleichzeitigen "Erzählungen
ans der alten Welt" (1801-,-3) ist so harmlos als möglich, und macht nicht die
geringsten Ansprüche auf Geist, Romantik und Tiefsinn; es geht im wesentlichen
Hand in Hand mit dem Geist des vorigen Jahrhunderts, und doch ist in noch
nicht zwanzig Jahren die öffentliche Meinung so weit vorgeschritten, daß man aus
dem Gründer der römischen Hierarchie einen Heiligen machen darf. -- 3) Die
historisch-juristische Kritik: Niebuhr, Savigny, Eichhorn, A. Müller n. s. w.
Die Forschungen dieser großen Männer wurden freilich nicht so schnell populär, als
die Schlegelschcn Ansichten und Meinungen, denn sie verlangten, um nur verstanden
zu werden, tieferes Nachdenken; desto nachhaltiger waren sie in ihren Wirkungen.
Die Abstractionen der gewöhnlichen Culturgeschichte und Politik, von dem Fort¬
schritt in gerader Linie, dem Gesellschaftsvertrag u. f. w. sind dnrch sie auf immer
zerstört, und wenn sich in ihre Idee des organischen Natnrwnchses und der Rechts-
cvntinuität auch noch viel Romantik einmischte, d. h. viele nur halb ausgemalte,
concrete Anschauungen, die also beinahe sich wieder zu Abstractionen verflüchtigten,
so geben sie doch eine Methode der Beobachtung und Kritik, die jetzt-nicht mehr
blos der antirevolutiouäreu Partei angehört. Ihr Haß gegen Revolutionen,
d. h. gegen Sprünge in der Geschichte, gegen Unterbrechungen der organischen
Continuität, war zwar ein sehr wesentliches Moment ihrer Kritik, aber doch nicht
das einzige; die Hauptsache war die Schärfung des Blicks für das Wirkliche,
Concrete, Lebendige, das sich nicht in Abstractionen auflösen ließ; für das stille,
werdende Leben der Geschichte, von der man früher nur die hervorspringenden
Resultate zusammengefaßt hatte. -- 4) Die Freiheitskriege und das daraus ent¬
springende Nationalgefühl. Erst durch dieses Nationalgefühl erhält die Geschicht¬
schreibung einen substantiellen Inhalt, alle großen Geschichtschreiber waren Patrio¬
ten und erfüllt von den Empfindungen, Interessen und Ideen ihres Volks, die
Träger seines Stolzes und seiner Größe. Ju Deutschland war aus nahe liegeu-


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Zerbino der arme Nestor, der Repräsentant des deutschen Spießbürgers, abgetrumpft,
als er die katholische Kirche zu lästern wagt! Nicht vom Standpunkt der Bigot¬
terie, sondern der feinen Bildung, die alles geschmacklos fand, was keinen Haut¬
gout hatte. Die andern Propheten, z. B. Adam Müller, haben weniger Ein¬
fluß gehabt; sie waren zu geziert, zu wenig handgreiflich; auch Haller nicht mit
seiner „Restauration der Staatswissenschaften" (1816 u. s. w,), wenn auch man¬
ches von seinen Ideen durch die reactionären Zeitschriften dem öffentlichen Bewußt¬
sein eingeprägt wurde. Das Buch ist viel besprochen, aber wenig gelesen, und
mit Recht, denn es ist von einer entsetzlichen Langweiligkeit, und man hat nur
nöthig, einige hundert Seiten darin zu lesen, um deu wesentlichen Inhalt der ge¬
stimmten fünf dicken Bände sich anzueignen. Wie rasch aber eine neue Idee sich
der öffentlichen Meinung einschmeichelt, wird man erkennen, wenn man in Beckers
Weltgeschichte das Capitel über Gregor VlI. nachschlägt. Das Buch, ursprüng¬
lich (1801 — 3) sür Kinder berechnet, grade wie die gleichzeitigen „Erzählungen
ans der alten Welt" (1801-,-3) ist so harmlos als möglich, und macht nicht die
geringsten Ansprüche auf Geist, Romantik und Tiefsinn; es geht im wesentlichen
Hand in Hand mit dem Geist des vorigen Jahrhunderts, und doch ist in noch
nicht zwanzig Jahren die öffentliche Meinung so weit vorgeschritten, daß man aus
dem Gründer der römischen Hierarchie einen Heiligen machen darf. — 3) Die
historisch-juristische Kritik: Niebuhr, Savigny, Eichhorn, A. Müller n. s. w.
Die Forschungen dieser großen Männer wurden freilich nicht so schnell populär, als
die Schlegelschcn Ansichten und Meinungen, denn sie verlangten, um nur verstanden
zu werden, tieferes Nachdenken; desto nachhaltiger waren sie in ihren Wirkungen.
Die Abstractionen der gewöhnlichen Culturgeschichte und Politik, von dem Fort¬
schritt in gerader Linie, dem Gesellschaftsvertrag u. f. w. sind dnrch sie auf immer
zerstört, und wenn sich in ihre Idee des organischen Natnrwnchses und der Rechts-
cvntinuität auch noch viel Romantik einmischte, d. h. viele nur halb ausgemalte,
concrete Anschauungen, die also beinahe sich wieder zu Abstractionen verflüchtigten,
so geben sie doch eine Methode der Beobachtung und Kritik, die jetzt-nicht mehr
blos der antirevolutiouäreu Partei angehört. Ihr Haß gegen Revolutionen,
d. h. gegen Sprünge in der Geschichte, gegen Unterbrechungen der organischen
Continuität, war zwar ein sehr wesentliches Moment ihrer Kritik, aber doch nicht
das einzige; die Hauptsache war die Schärfung des Blicks für das Wirkliche,
Concrete, Lebendige, das sich nicht in Abstractionen auflösen ließ; für das stille,
werdende Leben der Geschichte, von der man früher nur die hervorspringenden
Resultate zusammengefaßt hatte. — 4) Die Freiheitskriege und das daraus ent¬
springende Nationalgefühl. Erst durch dieses Nationalgefühl erhält die Geschicht¬
schreibung einen substantiellen Inhalt, alle großen Geschichtschreiber waren Patrio¬
ten und erfüllt von den Empfindungen, Interessen und Ideen ihres Volks, die
Träger seines Stolzes und seiner Größe. Ju Deutschland war aus nahe liegeu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/91>, abgerufen am 05.02.2025.