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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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zum Ganzen nur noch steigern. Um aber, wenn auch nicht den Zusammenhang,
wenigstens doch den Inhalt begreiflich zu machen, wird die Symphonie durch
einen Prolog eröffnet, der einen kurzen Abriß der Handlung vorträgt, untermischt
mit Reflexionen, wie: "Bist du nicht selbst vielleicht dem armen Erdensohn jene
Poesie, o Liebe, die dem Shakespeare allein verlieh die Weihe, und mit ihm
zurück gen Himmel floh?" Das fehlte noch, daß die Musik zu allen übrigen
Magddieufteu auch uoch ästhetische Kritik verrichten muß! Und sogar die Fee
Mad wird uns hier schon in einem Vocal-Scherzino ausführlich geschildert, da¬
mit es jeder merken könne, wie arm die musikalische Phantasie ist, die. selbst
einen heitern Scherz nicht erfinden kann, wenn ihr das Muster nicht vorgezeich-
"et ist. Ich zweifle nicht, daß Berlioz ein Bewunderer Shakespeares ist und sür
die Schönheiten seiner Tragödie schwärmt, aber indem er sie auf dem Prokru¬
stesbett seiner Symphonie verstümmelte, ha.t er den Beweis geführt, daß er we¬
der musikalisch empfindet, noch von dem Wesen eines Kunstwerkes einen Begriff
hat. Zum Ueberfluß hat er dieses Monstrum eine dramatische Symphonie be¬
nannt, an der -- dabei soll der doch sicher höchstens epische Prolog nicht einmal
zählen -- nichts Dramatisches ist, als daß ein Drama zum Grunde liegt, dem
bei dem Umgießen in die musikalische Form alles genommen ist, was ein Drama
ausmacht.

Durch welche Vorzüge im einzelnen mußte dieses Werk sich auszeichnen um
so kolossale Mißgriffe, wen" auch nicht vergessen, doch für den Augenblick zurück¬
treten zu macheu! Dies ist aber nicht der Fall; es ist reich an Bizarrerien, an selt¬
samen Effecten, aber arm an Schönheiten. Natürlich, denn der Mangel an ursprüng¬
lich musikalischer Empfindung und Erfindung, an Sinn für Maß und Klarheit, macht
sich am unmittelbarsten bei den einzelnen Motiven und Melodien geltend. Diese sind
mit sehr seltenen Aufnahmen dürftig und trocken, entweder mühsam zusammengesetzt
und in eine auffallende Form gereute, oder gradezu trivial, wobei denn freilich Ber¬
lioz den Vortheil hat, daß unter so vielem Ungenießbaren und Absurden das Triviale
einen Anspruch auf Verdienst beim Publicum gewinnt, das sich dabei zurechtfindet
und, da es ihm mit einem solchen Aufwande äußerer Mittel ins Ohr gebracht wird,
sich gern überreden läßt, es müsse doch wol etwas werth sein, wofür man sich so in
Unkosten setzt. Ein uoch schlimmeres Zeichen ist es, daß da, wo in der Natur
der Aufgabe ein gewisser sinnlicher Reiz liegt, der absolut keine abstrusen Ge¬
danken zuläßt, ein grober Materialismus zu Tage kommt, der Meyerbeerscher
Gemeinheit nichts nachgibt. Wer kann bei dem Chor der nach Hanse taumelnden
Capulets, bei dem wüsten Tanzgelage, das in einen wahren Meßbudenscandal
ausartet, sich uoch vorstelle", daß er, ich sage nicht in vornehmer, daß er in guter
Gesellschaft sei? Auch in Auerbachs Keller, wo Göthe uns zu einer Zeche lustiger
Gesellen führt, bringt uns Berlioz in eine gemeine Kneipe.. Anderes ist dann
wieder durch die äußerste Dürre widerwärtig, wie z. B. der Prolog. Weiß


zum Ganzen nur noch steigern. Um aber, wenn auch nicht den Zusammenhang,
wenigstens doch den Inhalt begreiflich zu machen, wird die Symphonie durch
einen Prolog eröffnet, der einen kurzen Abriß der Handlung vorträgt, untermischt
mit Reflexionen, wie: „Bist du nicht selbst vielleicht dem armen Erdensohn jene
Poesie, o Liebe, die dem Shakespeare allein verlieh die Weihe, und mit ihm
zurück gen Himmel floh?" Das fehlte noch, daß die Musik zu allen übrigen
Magddieufteu auch uoch ästhetische Kritik verrichten muß! Und sogar die Fee
Mad wird uns hier schon in einem Vocal-Scherzino ausführlich geschildert, da¬
mit es jeder merken könne, wie arm die musikalische Phantasie ist, die. selbst
einen heitern Scherz nicht erfinden kann, wenn ihr das Muster nicht vorgezeich-
»et ist. Ich zweifle nicht, daß Berlioz ein Bewunderer Shakespeares ist und sür
die Schönheiten seiner Tragödie schwärmt, aber indem er sie auf dem Prokru¬
stesbett seiner Symphonie verstümmelte, ha.t er den Beweis geführt, daß er we¬
der musikalisch empfindet, noch von dem Wesen eines Kunstwerkes einen Begriff
hat. Zum Ueberfluß hat er dieses Monstrum eine dramatische Symphonie be¬
nannt, an der — dabei soll der doch sicher höchstens epische Prolog nicht einmal
zählen — nichts Dramatisches ist, als daß ein Drama zum Grunde liegt, dem
bei dem Umgießen in die musikalische Form alles genommen ist, was ein Drama
ausmacht.

Durch welche Vorzüge im einzelnen mußte dieses Werk sich auszeichnen um
so kolossale Mißgriffe, wen» auch nicht vergessen, doch für den Augenblick zurück¬
treten zu macheu! Dies ist aber nicht der Fall; es ist reich an Bizarrerien, an selt¬
samen Effecten, aber arm an Schönheiten. Natürlich, denn der Mangel an ursprüng¬
lich musikalischer Empfindung und Erfindung, an Sinn für Maß und Klarheit, macht
sich am unmittelbarsten bei den einzelnen Motiven und Melodien geltend. Diese sind
mit sehr seltenen Aufnahmen dürftig und trocken, entweder mühsam zusammengesetzt
und in eine auffallende Form gereute, oder gradezu trivial, wobei denn freilich Ber¬
lioz den Vortheil hat, daß unter so vielem Ungenießbaren und Absurden das Triviale
einen Anspruch auf Verdienst beim Publicum gewinnt, das sich dabei zurechtfindet
und, da es ihm mit einem solchen Aufwande äußerer Mittel ins Ohr gebracht wird,
sich gern überreden läßt, es müsse doch wol etwas werth sein, wofür man sich so in
Unkosten setzt. Ein uoch schlimmeres Zeichen ist es, daß da, wo in der Natur
der Aufgabe ein gewisser sinnlicher Reiz liegt, der absolut keine abstrusen Ge¬
danken zuläßt, ein grober Materialismus zu Tage kommt, der Meyerbeerscher
Gemeinheit nichts nachgibt. Wer kann bei dem Chor der nach Hanse taumelnden
Capulets, bei dem wüsten Tanzgelage, das in einen wahren Meßbudenscandal
ausartet, sich uoch vorstelle», daß er, ich sage nicht in vornehmer, daß er in guter
Gesellschaft sei? Auch in Auerbachs Keller, wo Göthe uns zu einer Zeche lustiger
Gesellen führt, bringt uns Berlioz in eine gemeine Kneipe.. Anderes ist dann
wieder durch die äußerste Dürre widerwärtig, wie z. B. der Prolog. Weiß


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[0494] zum Ganzen nur noch steigern. Um aber, wenn auch nicht den Zusammenhang, wenigstens doch den Inhalt begreiflich zu machen, wird die Symphonie durch einen Prolog eröffnet, der einen kurzen Abriß der Handlung vorträgt, untermischt mit Reflexionen, wie: „Bist du nicht selbst vielleicht dem armen Erdensohn jene Poesie, o Liebe, die dem Shakespeare allein verlieh die Weihe, und mit ihm zurück gen Himmel floh?" Das fehlte noch, daß die Musik zu allen übrigen Magddieufteu auch uoch ästhetische Kritik verrichten muß! Und sogar die Fee Mad wird uns hier schon in einem Vocal-Scherzino ausführlich geschildert, da¬ mit es jeder merken könne, wie arm die musikalische Phantasie ist, die. selbst einen heitern Scherz nicht erfinden kann, wenn ihr das Muster nicht vorgezeich- »et ist. Ich zweifle nicht, daß Berlioz ein Bewunderer Shakespeares ist und sür die Schönheiten seiner Tragödie schwärmt, aber indem er sie auf dem Prokru¬ stesbett seiner Symphonie verstümmelte, ha.t er den Beweis geführt, daß er we¬ der musikalisch empfindet, noch von dem Wesen eines Kunstwerkes einen Begriff hat. Zum Ueberfluß hat er dieses Monstrum eine dramatische Symphonie be¬ nannt, an der — dabei soll der doch sicher höchstens epische Prolog nicht einmal zählen — nichts Dramatisches ist, als daß ein Drama zum Grunde liegt, dem bei dem Umgießen in die musikalische Form alles genommen ist, was ein Drama ausmacht. Durch welche Vorzüge im einzelnen mußte dieses Werk sich auszeichnen um so kolossale Mißgriffe, wen» auch nicht vergessen, doch für den Augenblick zurück¬ treten zu macheu! Dies ist aber nicht der Fall; es ist reich an Bizarrerien, an selt¬ samen Effecten, aber arm an Schönheiten. Natürlich, denn der Mangel an ursprüng¬ lich musikalischer Empfindung und Erfindung, an Sinn für Maß und Klarheit, macht sich am unmittelbarsten bei den einzelnen Motiven und Melodien geltend. Diese sind mit sehr seltenen Aufnahmen dürftig und trocken, entweder mühsam zusammengesetzt und in eine auffallende Form gereute, oder gradezu trivial, wobei denn freilich Ber¬ lioz den Vortheil hat, daß unter so vielem Ungenießbaren und Absurden das Triviale einen Anspruch auf Verdienst beim Publicum gewinnt, das sich dabei zurechtfindet und, da es ihm mit einem solchen Aufwande äußerer Mittel ins Ohr gebracht wird, sich gern überreden läßt, es müsse doch wol etwas werth sein, wofür man sich so in Unkosten setzt. Ein uoch schlimmeres Zeichen ist es, daß da, wo in der Natur der Aufgabe ein gewisser sinnlicher Reiz liegt, der absolut keine abstrusen Ge¬ danken zuläßt, ein grober Materialismus zu Tage kommt, der Meyerbeerscher Gemeinheit nichts nachgibt. Wer kann bei dem Chor der nach Hanse taumelnden Capulets, bei dem wüsten Tanzgelage, das in einen wahren Meßbudenscandal ausartet, sich uoch vorstelle», daß er, ich sage nicht in vornehmer, daß er in guter Gesellschaft sei? Auch in Auerbachs Keller, wo Göthe uns zu einer Zeche lustiger Gesellen führt, bringt uns Berlioz in eine gemeine Kneipe.. Anderes ist dann wieder durch die äußerste Dürre widerwärtig, wie z. B. der Prolog. Weiß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/494>, abgerufen am 06.02.2025.