Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.er zog die geschichtlichen Neigungen seines Volkes zu Rathe, und suchte aus diese" das Eine entgegengesetzte Bewegung nehmen wir in der italienischen Literatur wahr. er zog die geschichtlichen Neigungen seines Volkes zu Rathe, und suchte aus diese» das Eine entgegengesetzte Bewegung nehmen wir in der italienischen Literatur wahr. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0326" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97031"/> <p xml:id="ID_968" prev="#ID_967"> er zog die geschichtlichen Neigungen seines Volkes zu Rathe, und suchte aus diese» das<lb/> Bedürfniß einer constituirten und mächtigen Kirche herzuleiten: ähnlich wie es bei uns<lb/> das Streben der sogenannten historischen Schule war. Zwar gehörte er nicht zu den<lb/> Legitimisten im deutschen Sinne, er betrachtete vielmehr die ganze Karlistische Erhebung<lb/> nur als eine nothwendige Reaction gegen die anarchistische Zerfahrenheit in der Haupt¬<lb/> stadt, aber er sah in ihr ein relativ berechtigtes Moment, das man, wo möglich, in<lb/> den neuen Staatsorganismus aufnehmen müsse, und verfaßte in diesem Sinne die Pro-<lb/> clamation des Grafen von Montemolin, in der sich dieser um die Hand der Königin<lb/> bewarb. In seiner ästhetischen Verklärung des Katholicismus erinnert er zuweilen an<lb/> Chateaubriand, aber er er hat mehr Gehalt und Tiefe. Er ist gegen den modernen<lb/> Constitutionalismus, d. h. die Theilung der Souveränetät, er will die Stände auf das<lb/> Recht der Steuerbewilligung beschränken. Zwei Dinge sind es, die beständig bei ihm<lb/> wiederkehren: einmal die Sehnsucht aus dem bcstimmungsloscn Skepticismus der Gegen¬<lb/> wart heraus nach einem recht handgreiflichen Autoritätsprincip, worin er zuweilen mit<lb/> Denkern von ganz entgegengesetzter Richtung, z. V. mit Carlyle, Hand in Hand geht;<lb/> sodann die Beziehung aus den I'ensamienio dö I» uft-ion (der leitenden Grundidee<lb/> des Volkes), welche insofern etwas Mystisches hat, als sie den doch auch nationalen<lb/> Liberalismus willkürlich von dem Inhalt des nationalen Bewußtseins sondert. Zuwei¬<lb/> len sind aber seine Anschauungen bedeutend, so hat er z. B. die Februarrevolution be¬<lb/> reits ein Jahr vor ihrem wirklichen Eintreten mit großer Bestimmtheit vorausgesagt. —<lb/> Seine Hauptwerke, deren Polemik sich zum Theil unmittelbar gegen die deutsche Philo¬<lb/> sophie richtet, sind: LI I'mi^eslunUswo camparaclo con ki K:>tolle:ismo en sus retum-<lb/> ones con la eiviligüoiou europeu (Vergleichung des Protestantismus und Katholicismus<lb/> in ihren Beziehungen zur europäischen Cultur); I^ilosolia lunclameinul; L«ri»s a un<lb/> IZseepiieo (Briefe an einen Zweifler) und Ki Oiierio (das Wesen der Kritik), ein sehr geist¬<lb/> reiches Werk. Als mit dem Regierungsantritt Pius IX. sich allgemein die Ansicht verbrei¬<lb/> tete, der Katholicismus werde sich selber verjüngen, und dann noch einmal eine belebende<lb/> Kraft aus die Welt ausüben, schloß sich Balmes mit großer Leidenschaft dieser Idee an, und<lb/> wurde deshalb von der streng klerikalen Partei seines Landes als Verräther angefochten. —</p><lb/> <p xml:id="ID_969" next="#ID_970"> Eine entgegengesetzte Bewegung nehmen wir in der italienischen Literatur wahr.<lb/> Vor sechs Jahren herrschte dort allgemein die Ueberzeugung, das Papstthum werde die<lb/> Fahne der Nationalität aufpflanzen, Italie» von den Barbaren befreien, und eine neue<lb/> Kirche ins Lebe» rufen, die ebenso den alten Traditionen als dem neuen Geiste gerecht<lb/> werden würde. Es waren bedeutende Schriftsteller, welche diesen liberalen Katholicis¬<lb/> mus predigten, vor allen Vincenzo Gioberti, Pater Ventura und Nosmini<lb/> Serbati (actio ein^u« piagds civil-» 5»,ni> c-Kiosg, 1849). Alle drei forderten große<lb/> Veränderungen im System der Kirche, ungefähr wie früher der Ubbo Lamcimais, aber<lb/> alle glaubten an die Zukunft der Kirche; das Jahr 1848 hat alle Welt darüber ent¬<lb/> täuscht; eS hat sich gezeigt, daß das Papstthum seit seiner Restauration nur noch durch<lb/> den Schutz der absolutistischen Mächte und im Interesse derselben bestehen kann, daß es<lb/> eine eitle Vorstellung ist, von ihm etwas für die Erneuerung Italiens zu erwarten.<lb/> Diese Ueberzeugung hat Gioberti noch vor seinem Tode in der Schrift alvi rimwva-<lb/> menlo c-ivilö ä'Uuliu ausgesprochen, noch viel entschiedener aber tritt sie in den: neuen<lb/> Werk von Ausonio Franchi (eigentlich Bonaviuo, ein Geruche, der die Priester¬<lb/> kleidung abgelegt) hervor: I» lilosoll» civile seuole lwliiwe. Er spricht mit dürre»</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0326]
er zog die geschichtlichen Neigungen seines Volkes zu Rathe, und suchte aus diese» das
Bedürfniß einer constituirten und mächtigen Kirche herzuleiten: ähnlich wie es bei uns
das Streben der sogenannten historischen Schule war. Zwar gehörte er nicht zu den
Legitimisten im deutschen Sinne, er betrachtete vielmehr die ganze Karlistische Erhebung
nur als eine nothwendige Reaction gegen die anarchistische Zerfahrenheit in der Haupt¬
stadt, aber er sah in ihr ein relativ berechtigtes Moment, das man, wo möglich, in
den neuen Staatsorganismus aufnehmen müsse, und verfaßte in diesem Sinne die Pro-
clamation des Grafen von Montemolin, in der sich dieser um die Hand der Königin
bewarb. In seiner ästhetischen Verklärung des Katholicismus erinnert er zuweilen an
Chateaubriand, aber er er hat mehr Gehalt und Tiefe. Er ist gegen den modernen
Constitutionalismus, d. h. die Theilung der Souveränetät, er will die Stände auf das
Recht der Steuerbewilligung beschränken. Zwei Dinge sind es, die beständig bei ihm
wiederkehren: einmal die Sehnsucht aus dem bcstimmungsloscn Skepticismus der Gegen¬
wart heraus nach einem recht handgreiflichen Autoritätsprincip, worin er zuweilen mit
Denkern von ganz entgegengesetzter Richtung, z. V. mit Carlyle, Hand in Hand geht;
sodann die Beziehung aus den I'ensamienio dö I» uft-ion (der leitenden Grundidee
des Volkes), welche insofern etwas Mystisches hat, als sie den doch auch nationalen
Liberalismus willkürlich von dem Inhalt des nationalen Bewußtseins sondert. Zuwei¬
len sind aber seine Anschauungen bedeutend, so hat er z. B. die Februarrevolution be¬
reits ein Jahr vor ihrem wirklichen Eintreten mit großer Bestimmtheit vorausgesagt. —
Seine Hauptwerke, deren Polemik sich zum Theil unmittelbar gegen die deutsche Philo¬
sophie richtet, sind: LI I'mi^eslunUswo camparaclo con ki K:>tolle:ismo en sus retum-
ones con la eiviligüoiou europeu (Vergleichung des Protestantismus und Katholicismus
in ihren Beziehungen zur europäischen Cultur); I^ilosolia lunclameinul; L«ri»s a un
IZseepiieo (Briefe an einen Zweifler) und Ki Oiierio (das Wesen der Kritik), ein sehr geist¬
reiches Werk. Als mit dem Regierungsantritt Pius IX. sich allgemein die Ansicht verbrei¬
tete, der Katholicismus werde sich selber verjüngen, und dann noch einmal eine belebende
Kraft aus die Welt ausüben, schloß sich Balmes mit großer Leidenschaft dieser Idee an, und
wurde deshalb von der streng klerikalen Partei seines Landes als Verräther angefochten. —
Eine entgegengesetzte Bewegung nehmen wir in der italienischen Literatur wahr.
Vor sechs Jahren herrschte dort allgemein die Ueberzeugung, das Papstthum werde die
Fahne der Nationalität aufpflanzen, Italie» von den Barbaren befreien, und eine neue
Kirche ins Lebe» rufen, die ebenso den alten Traditionen als dem neuen Geiste gerecht
werden würde. Es waren bedeutende Schriftsteller, welche diesen liberalen Katholicis¬
mus predigten, vor allen Vincenzo Gioberti, Pater Ventura und Nosmini
Serbati (actio ein^u« piagds civil-» 5»,ni> c-Kiosg, 1849). Alle drei forderten große
Veränderungen im System der Kirche, ungefähr wie früher der Ubbo Lamcimais, aber
alle glaubten an die Zukunft der Kirche; das Jahr 1848 hat alle Welt darüber ent¬
täuscht; eS hat sich gezeigt, daß das Papstthum seit seiner Restauration nur noch durch
den Schutz der absolutistischen Mächte und im Interesse derselben bestehen kann, daß es
eine eitle Vorstellung ist, von ihm etwas für die Erneuerung Italiens zu erwarten.
Diese Ueberzeugung hat Gioberti noch vor seinem Tode in der Schrift alvi rimwva-
menlo c-ivilö ä'Uuliu ausgesprochen, noch viel entschiedener aber tritt sie in den: neuen
Werk von Ausonio Franchi (eigentlich Bonaviuo, ein Geruche, der die Priester¬
kleidung abgelegt) hervor: I» lilosoll» civile seuole lwliiwe. Er spricht mit dürre»
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |