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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Die Cheiks stehen wie die Muftis auf der zweiten Stufe in der Hierarchie
des Ulema. Sie und die Khatibs erfreuen sich allein einer gewissen Achtung
im Ulema. Die übrigen drei Classen der Imaus werden kaum als zum Ulema
gehörig betrachtet. Bei armen Moscheen verrichtet oft dieselbe Person die Dienste
eines Cayim, Muezzin nud Imam: sie spricht das Gebet, ruft zu demselben die
Gläubigen, reinigt die Strohmatten und hält Wache an der Kirchthür.

Der Ulema ergänzt sich in der Regel ans den armen Ständen und fordert
ein weniger mühevolles als langes Noviziat. Wenn der Aspirant den Melech
oder die Elementarschule verlassen hat, in welcher die armen Kinder jedes Stadt¬
viertels bis zum 11. oder 12. Jahre unentgeltlich unterrichtet werden, so tritt er
in eins der Medresses oder Kollegien, die zu den großen Moscheen gehören und
gewissermaßen die Seminarien des Islams sind. Hier bleibt er als Svfta oder
Phaleb zehn bis zwölf Jahre und lernt arabische Grammatik und Syntax, Logik,
Moral, Rhetorik, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Koran und Sunna. Die
Moschee gibt ihm Wohnung und Nahrung. Seinen übrigen Unterhalt verdient
er sich als öffentlicher Schreiber, Kiatib, oder indem er türkische und arabische
Handschriften für die Kaufleute des Bazar abschreibt oder indem er dem Cayim
bei der Reinigung der Moschee hilft. Hierauf wird er Danischmend (begabt mit
Wissenschaft) und kann nun Imam oder Melech, Lehrer, werden. Damit aber
verliert er jeden Anspruch ans den Ulema. Will er diese höhere Laufbahn ver¬
folgen, so muß er n'alte Studien machen und dnrch eine Prüfung den Rang eines
Mnlazim, (Vorbereitn') die erste Stufe des Ulema sich erwerben. Nun kann
er die Stelle eines Raid, eines ErgänznngS- oder Friedensrichters in der Provinz
erhalten. Treibt ihn aber sein Ehrgeiz weiter, so muß er abermals sieben Jahre
dem Studium der Jurisprudenz, der Dogmatik und der Gesetzanslegung sich wid¬
men und sich deu Grad eiues Mndvri (Professors) erwerben, der von dem Cheik-
el-islam selbst verliehen wird und die zweite Rangstufe im Ulema bildet. Nun
stehen ihm die beiden Carieren des NichtcrstandcS offen: er kann entweder eine
Anstellung als Mufti an einem Landgerichte fordern, in welchem Falle er aber
jedem Anspruch auf Beförderung entsagt, oder er kann allmälig die zehn Stufen
des Professorats bis zu der des Snleimaniö durchmachen. Dann tritt er in die erste
Rangstufe des Ulema und des Nichterstandes ein, erhält den Titel eines Mokka
makredji und ist zu den hohen und höchsten Würden der Justiz befähigt.

Man begreift, wie eine solche Körperschaft, die alle lebendigen Kräfte des
Islamismus an sich gezogen hat und eine wahre Aristokratie nicht der Geburt,
sondern der Stellung bildet, ihrer Natur nach jeder Reform abgeneigt ist. Die
Reform würde der Untergang ihrer Macht sein. Was würde ans der religiösen
Gesellschaft in der Türkei werden, wenn jeder Muselmann so gebildet wäre, daß
er selbst ohne Vermittlung des Ulema seine religiösen Pflichten erfüllen könnte!
Und nicht allein die geistliche Gewalt der Moschee ist alsdann bedroht, sondern


Die Cheiks stehen wie die Muftis auf der zweiten Stufe in der Hierarchie
des Ulema. Sie und die Khatibs erfreuen sich allein einer gewissen Achtung
im Ulema. Die übrigen drei Classen der Imaus werden kaum als zum Ulema
gehörig betrachtet. Bei armen Moscheen verrichtet oft dieselbe Person die Dienste
eines Cayim, Muezzin nud Imam: sie spricht das Gebet, ruft zu demselben die
Gläubigen, reinigt die Strohmatten und hält Wache an der Kirchthür.

Der Ulema ergänzt sich in der Regel ans den armen Ständen und fordert
ein weniger mühevolles als langes Noviziat. Wenn der Aspirant den Melech
oder die Elementarschule verlassen hat, in welcher die armen Kinder jedes Stadt¬
viertels bis zum 11. oder 12. Jahre unentgeltlich unterrichtet werden, so tritt er
in eins der Medresses oder Kollegien, die zu den großen Moscheen gehören und
gewissermaßen die Seminarien des Islams sind. Hier bleibt er als Svfta oder
Phaleb zehn bis zwölf Jahre und lernt arabische Grammatik und Syntax, Logik,
Moral, Rhetorik, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Koran und Sunna. Die
Moschee gibt ihm Wohnung und Nahrung. Seinen übrigen Unterhalt verdient
er sich als öffentlicher Schreiber, Kiatib, oder indem er türkische und arabische
Handschriften für die Kaufleute des Bazar abschreibt oder indem er dem Cayim
bei der Reinigung der Moschee hilft. Hierauf wird er Danischmend (begabt mit
Wissenschaft) und kann nun Imam oder Melech, Lehrer, werden. Damit aber
verliert er jeden Anspruch ans den Ulema. Will er diese höhere Laufbahn ver¬
folgen, so muß er n'alte Studien machen und dnrch eine Prüfung den Rang eines
Mnlazim, (Vorbereitn') die erste Stufe des Ulema sich erwerben. Nun kann
er die Stelle eines Raid, eines ErgänznngS- oder Friedensrichters in der Provinz
erhalten. Treibt ihn aber sein Ehrgeiz weiter, so muß er abermals sieben Jahre
dem Studium der Jurisprudenz, der Dogmatik und der Gesetzanslegung sich wid¬
men und sich deu Grad eiues Mndvri (Professors) erwerben, der von dem Cheik-
el-islam selbst verliehen wird und die zweite Rangstufe im Ulema bildet. Nun
stehen ihm die beiden Carieren des NichtcrstandcS offen: er kann entweder eine
Anstellung als Mufti an einem Landgerichte fordern, in welchem Falle er aber
jedem Anspruch auf Beförderung entsagt, oder er kann allmälig die zehn Stufen
des Professorats bis zu der des Snleimaniö durchmachen. Dann tritt er in die erste
Rangstufe des Ulema und des Nichterstandes ein, erhält den Titel eines Mokka
makredji und ist zu den hohen und höchsten Würden der Justiz befähigt.

Man begreift, wie eine solche Körperschaft, die alle lebendigen Kräfte des
Islamismus an sich gezogen hat und eine wahre Aristokratie nicht der Geburt,
sondern der Stellung bildet, ihrer Natur nach jeder Reform abgeneigt ist. Die
Reform würde der Untergang ihrer Macht sein. Was würde ans der religiösen
Gesellschaft in der Türkei werden, wenn jeder Muselmann so gebildet wäre, daß
er selbst ohne Vermittlung des Ulema seine religiösen Pflichten erfüllen könnte!
Und nicht allein die geistliche Gewalt der Moschee ist alsdann bedroht, sondern


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[0282] Die Cheiks stehen wie die Muftis auf der zweiten Stufe in der Hierarchie des Ulema. Sie und die Khatibs erfreuen sich allein einer gewissen Achtung im Ulema. Die übrigen drei Classen der Imaus werden kaum als zum Ulema gehörig betrachtet. Bei armen Moscheen verrichtet oft dieselbe Person die Dienste eines Cayim, Muezzin nud Imam: sie spricht das Gebet, ruft zu demselben die Gläubigen, reinigt die Strohmatten und hält Wache an der Kirchthür. Der Ulema ergänzt sich in der Regel ans den armen Ständen und fordert ein weniger mühevolles als langes Noviziat. Wenn der Aspirant den Melech oder die Elementarschule verlassen hat, in welcher die armen Kinder jedes Stadt¬ viertels bis zum 11. oder 12. Jahre unentgeltlich unterrichtet werden, so tritt er in eins der Medresses oder Kollegien, die zu den großen Moscheen gehören und gewissermaßen die Seminarien des Islams sind. Hier bleibt er als Svfta oder Phaleb zehn bis zwölf Jahre und lernt arabische Grammatik und Syntax, Logik, Moral, Rhetorik, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Koran und Sunna. Die Moschee gibt ihm Wohnung und Nahrung. Seinen übrigen Unterhalt verdient er sich als öffentlicher Schreiber, Kiatib, oder indem er türkische und arabische Handschriften für die Kaufleute des Bazar abschreibt oder indem er dem Cayim bei der Reinigung der Moschee hilft. Hierauf wird er Danischmend (begabt mit Wissenschaft) und kann nun Imam oder Melech, Lehrer, werden. Damit aber verliert er jeden Anspruch ans den Ulema. Will er diese höhere Laufbahn ver¬ folgen, so muß er n'alte Studien machen und dnrch eine Prüfung den Rang eines Mnlazim, (Vorbereitn') die erste Stufe des Ulema sich erwerben. Nun kann er die Stelle eines Raid, eines ErgänznngS- oder Friedensrichters in der Provinz erhalten. Treibt ihn aber sein Ehrgeiz weiter, so muß er abermals sieben Jahre dem Studium der Jurisprudenz, der Dogmatik und der Gesetzanslegung sich wid¬ men und sich deu Grad eiues Mndvri (Professors) erwerben, der von dem Cheik- el-islam selbst verliehen wird und die zweite Rangstufe im Ulema bildet. Nun stehen ihm die beiden Carieren des NichtcrstandcS offen: er kann entweder eine Anstellung als Mufti an einem Landgerichte fordern, in welchem Falle er aber jedem Anspruch auf Beförderung entsagt, oder er kann allmälig die zehn Stufen des Professorats bis zu der des Snleimaniö durchmachen. Dann tritt er in die erste Rangstufe des Ulema und des Nichterstandes ein, erhält den Titel eines Mokka makredji und ist zu den hohen und höchsten Würden der Justiz befähigt. Man begreift, wie eine solche Körperschaft, die alle lebendigen Kräfte des Islamismus an sich gezogen hat und eine wahre Aristokratie nicht der Geburt, sondern der Stellung bildet, ihrer Natur nach jeder Reform abgeneigt ist. Die Reform würde der Untergang ihrer Macht sein. Was würde ans der religiösen Gesellschaft in der Türkei werden, wenn jeder Muselmann so gebildet wäre, daß er selbst ohne Vermittlung des Ulema seine religiösen Pflichten erfüllen könnte! Und nicht allein die geistliche Gewalt der Moschee ist alsdann bedroht, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/282>, abgerufen am 05.02.2025.