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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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kennen zu lernen. Bei den Türken umfaßt der Kora", wie die Bibel bei den
Hebräern, alle Beziehungen des religiösen und bürgerlichen Lebens. Quelle jedes
Rechtes, Princip jeder Pflicht, ist er der Führer und die beständige Richtschnur
des Muselmanns, die einzige Regel, die er in allen seinen Lebeiismomente"
befragt. Aber diese Regel ist nicht immer verständlich. Der Koran wimmelt von
Lücken und Widersprüchen aller Art. Schon im 8. Jahrhundert nach Christus
widmete sich daher eine besondere Classe von Muselmännern dem Studium und
der Auslegung des heiligen Buches. Mau nannte sie Ulemas oder Gelehrte,
zum Unterschiede von der Masse deö Volkes, die in Unwissenheit blieb und kaum
das Alphabet kannte. Bald erhielten die Ulemas auch eine politische Bedeutung.
Die Kalifen waren ursprünglich, wie die Hohenpriester bei den Juden, zugleich
Oberpriester, Gesetzgeber und Richter. Später nahm sie die Sorge für die
weltlichen Angelegenheiten des ausgedehnten Reiches ausschließlich in. Anspruch,
und sie überließen den Ulemas an ihrer Statt die priesterlichen und richterlichen
Functionen. Von der Zeit bildeten die Ulemas einen besonderen Priesterstand,
dessen Oberhaupt mittelst seines gefürchteten Fetva der Autorität der Sultane
mehr als einmal Schranken setzte. Die Nachfolger Mohameds pflegten nämlich
den wichtigsten Acten ihrer Regierung dadurch eine religiöse Weihe zu geben, daß
sie ihnen das heilige Siegel ausdrückten. Mit dieser Function, die ursprünglich
nur eine Formalität war, wurde das Oberhaupt der Ulemas, der Cheik-elMam,
betraut. Solange nnn energische und kriegerische Sultane an der Spitze des
Reichs standen, war der Cheik-el-islam ohne bedeutenden Einfluß. Murad IV.
ließ einen solchen Cheik enthaupten, oder, wie einige erzählen, in einem Mörser
zerstampfen, weil er es gewagt hatte, sich seineu Anordnungen zu widersetzen;
obgleich das Gesetz verbietet, das Blut eines Ulema zu vergießen. Als aber
die Sultane entarteten, versagten die Cheiks nicht allein ihr Siegel oder Fetva
den kaiserlichen Hatticherifs, sondern griffen sogar die Person des Herrschers selbst
an; hinter der Ehrfurcht, die dem Gesetz und ihrer eigenen Unverletzlichkeit
gcbürte, sich verschanzend, stürzten sie die Sultane vom Throne und überlieferten
sie den Dolchen der Janitschaaren.

Der Ulema oder die Körperschaft der Ulemas theilt sich in zwei Classen:
in die richterliche, die ans Auslegern des Gesetzes, Mnftis, und den Richtern,
Katlo, besteht, und in die religiöse, zu der die Diener des Cultus, Jmcnns,
gehöre". Ursprünglich waren diese beiden Classen vereint, der Kadi konnte
priesterliche Functionen übe" und der Imam, nachdem er die Moschee verlassen, Recht
sprechen. Aber bald bildete" die Kadis eine besondere Körperschaft und beschränkten die
Imaus auf die Predigt und denDienst in derMoschee. DieMacht, welche sie ausübten,
der Umstand, daß zu ihrer Körperschaft die Großwürdenträger und das Haupt der Ule-
maö gehörten, das stets wachsende Ansehen dieses Hauptes, dessen Functionen meist
mehr richterlicher als priesterlicher Natur sind, die große" Einnahmen, die ihnen ihre


kennen zu lernen. Bei den Türken umfaßt der Kora», wie die Bibel bei den
Hebräern, alle Beziehungen des religiösen und bürgerlichen Lebens. Quelle jedes
Rechtes, Princip jeder Pflicht, ist er der Führer und die beständige Richtschnur
des Muselmanns, die einzige Regel, die er in allen seinen Lebeiismomente»
befragt. Aber diese Regel ist nicht immer verständlich. Der Koran wimmelt von
Lücken und Widersprüchen aller Art. Schon im 8. Jahrhundert nach Christus
widmete sich daher eine besondere Classe von Muselmännern dem Studium und
der Auslegung des heiligen Buches. Mau nannte sie Ulemas oder Gelehrte,
zum Unterschiede von der Masse deö Volkes, die in Unwissenheit blieb und kaum
das Alphabet kannte. Bald erhielten die Ulemas auch eine politische Bedeutung.
Die Kalifen waren ursprünglich, wie die Hohenpriester bei den Juden, zugleich
Oberpriester, Gesetzgeber und Richter. Später nahm sie die Sorge für die
weltlichen Angelegenheiten des ausgedehnten Reiches ausschließlich in. Anspruch,
und sie überließen den Ulemas an ihrer Statt die priesterlichen und richterlichen
Functionen. Von der Zeit bildeten die Ulemas einen besonderen Priesterstand,
dessen Oberhaupt mittelst seines gefürchteten Fetva der Autorität der Sultane
mehr als einmal Schranken setzte. Die Nachfolger Mohameds pflegten nämlich
den wichtigsten Acten ihrer Regierung dadurch eine religiöse Weihe zu geben, daß
sie ihnen das heilige Siegel ausdrückten. Mit dieser Function, die ursprünglich
nur eine Formalität war, wurde das Oberhaupt der Ulemas, der Cheik-elMam,
betraut. Solange nnn energische und kriegerische Sultane an der Spitze des
Reichs standen, war der Cheik-el-islam ohne bedeutenden Einfluß. Murad IV.
ließ einen solchen Cheik enthaupten, oder, wie einige erzählen, in einem Mörser
zerstampfen, weil er es gewagt hatte, sich seineu Anordnungen zu widersetzen;
obgleich das Gesetz verbietet, das Blut eines Ulema zu vergießen. Als aber
die Sultane entarteten, versagten die Cheiks nicht allein ihr Siegel oder Fetva
den kaiserlichen Hatticherifs, sondern griffen sogar die Person des Herrschers selbst
an; hinter der Ehrfurcht, die dem Gesetz und ihrer eigenen Unverletzlichkeit
gcbürte, sich verschanzend, stürzten sie die Sultane vom Throne und überlieferten
sie den Dolchen der Janitschaaren.

Der Ulema oder die Körperschaft der Ulemas theilt sich in zwei Classen:
in die richterliche, die ans Auslegern des Gesetzes, Mnftis, und den Richtern,
Katlo, besteht, und in die religiöse, zu der die Diener des Cultus, Jmcnns,
gehöre». Ursprünglich waren diese beiden Classen vereint, der Kadi konnte
priesterliche Functionen übe» und der Imam, nachdem er die Moschee verlassen, Recht
sprechen. Aber bald bildete» die Kadis eine besondere Körperschaft und beschränkten die
Imaus auf die Predigt und denDienst in derMoschee. DieMacht, welche sie ausübten,
der Umstand, daß zu ihrer Körperschaft die Großwürdenträger und das Haupt der Ule-
maö gehörten, das stets wachsende Ansehen dieses Hauptes, dessen Functionen meist
mehr richterlicher als priesterlicher Natur sind, die große» Einnahmen, die ihnen ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/280>, abgerufen am 05.02.2025.