Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.wenn wir die Dichtung als den Ausdruck eigener Individualität erfaßten. Wo Die Reaction gegen die Antike war durch die allgemeine Richtung der Zeit So ist dieses Streben nach Realismus, trotz seines scheinbaren Wider¬ wenn wir die Dichtung als den Ausdruck eigener Individualität erfaßten. Wo Die Reaction gegen die Antike war durch die allgemeine Richtung der Zeit So ist dieses Streben nach Realismus, trotz seines scheinbaren Wider¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96885"/> <p xml:id="ID_483" prev="#ID_482"> wenn wir die Dichtung als den Ausdruck eigener Individualität erfaßten. Wo<lb/> er gesündigt hat, sündigt er ans Doctrin, wenn auch diese Doctrin häufig in<lb/> der Form des Jnstiuctes auftrat. Und er steht in dieser Doctrin keineswegs<lb/> allein; anßer den Dichtern, die ihm am nächsten verwandt sind, Brentano und<lb/> Bettine geht unter andern auch Heinrich von Kleist darin mit ihm Hand in Hand;<lb/> ja selbst Jean Paul, obgleich die natürliche Anlage dieses Dichters eine ganz<lb/> verschiedene war. — Wir wollen beide Seiten dieser Doctrin näher ins Auge<lb/> fassen, weil sie mit den allgemeinen ästhetischen Fragen im Zusammenhang<lb/> stehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_484"> Die Reaction gegen die Antike war durch die allgemeine Richtung der Zeit<lb/> bedingt; wir finden sie ebenso in der bildenden Kunst, in der Wissenschaft, in<lb/> der Geschichtschreibung, in dem gesellschaftlichen und politischen Leben. Sie war<lb/> völlig gerechtfertigt, denn durch ihre ausschließliche Hinneigung zur Antike hatten<lb/> Schiller und Goethe ebenso die deutsche Poesie von ihrem natürlichen Boden<lb/> entfernt, als es in der Baukunst, in der Plastik und Malerei geschehen war.<lb/> Sie war ferner keineswegs eine Abweichung von der natürlichen Entwickelung<lb/> unsrer Dichtkunst, denn sie setzte nur das fort, was Lessing und Goethe selbst in<lb/> der ersten Periode seines Schaffens angebahnt hatten. Der Götz von Berli-<lb/> chingen, der Faust in seiner ersten Anlage, der Werther, die älteren Gedichte und<lb/> die Fastnachtsspiele waren durchaus der alten nationalen Kunstform und dem<lb/> unmittelbaren Inhalt des deutschen Lebens entnommen, und erst später hat sich<lb/> der Geschmack für die Antike ausgebildet. Daß mau in der Reaction zu weit<lb/> ging, war sehr natürlich, es lag zu nahe, dem farblosen für die nationalen<lb/> Voraussetzungen nicht geeigneten conventionellen Idealismus das Princip des<lb/> Grotesken entgegenzusetzen, wie es später von Seiten der neu-französischen<lb/> Romantiker geschehen ist; die eckigen, ungelenken, aber in ihrer Naivetät zuweilen<lb/> sehr anmuthigen Formen des deutschen Meistergesangs, des Fastnachtsspiels, des<lb/> Ammenmärcheus und Volksliedes gegen die Grazie der griechischen Kunstform<lb/> emporzuheben, sich ans der gute» Gesellschaft, die nach Goethes eigenem<lb/> Ausdruck ,,zu dem kleinsten Gedicht keine Gelegenheit gibt", in die untern Schichten<lb/> des Volkes, in die Handwerkskneipeu und Spinnstuben zurückzusehnen, die schonen<lb/> aber einförmigen Linien der Antike dnrch gothische Schnörkel und Arabesken zu<lb/> ersetzen, an Stelle der idealistischen Typen die Genremalerei einzuführen und die<lb/> Originalität auch da aufzusuchen, wo sie zu einer reinen Fratze ausgeartet war.<lb/> Es lief auch hier, wenigstens zum Theil, der alte Uebermuth des Dichters und<lb/> Studenten gegen die hergebrachte Alltäglichkeit des Philistcrlebens mit unter,<lb/> jener Ton, den Goethe zuerst angeschlagen hatte, und den die Romantiker nach<lb/> einer andern Seite hin ausbeuteten.</p><lb/> <p xml:id="ID_485" next="#ID_486"> So ist dieses Streben nach Realismus, trotz seines scheinbaren Wider¬<lb/> spruchs, in einem gewissen Sinn mit jener Uebertreibung des poetischen Jdealis-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0180]
wenn wir die Dichtung als den Ausdruck eigener Individualität erfaßten. Wo
er gesündigt hat, sündigt er ans Doctrin, wenn auch diese Doctrin häufig in
der Form des Jnstiuctes auftrat. Und er steht in dieser Doctrin keineswegs
allein; anßer den Dichtern, die ihm am nächsten verwandt sind, Brentano und
Bettine geht unter andern auch Heinrich von Kleist darin mit ihm Hand in Hand;
ja selbst Jean Paul, obgleich die natürliche Anlage dieses Dichters eine ganz
verschiedene war. — Wir wollen beide Seiten dieser Doctrin näher ins Auge
fassen, weil sie mit den allgemeinen ästhetischen Fragen im Zusammenhang
stehen.
Die Reaction gegen die Antike war durch die allgemeine Richtung der Zeit
bedingt; wir finden sie ebenso in der bildenden Kunst, in der Wissenschaft, in
der Geschichtschreibung, in dem gesellschaftlichen und politischen Leben. Sie war
völlig gerechtfertigt, denn durch ihre ausschließliche Hinneigung zur Antike hatten
Schiller und Goethe ebenso die deutsche Poesie von ihrem natürlichen Boden
entfernt, als es in der Baukunst, in der Plastik und Malerei geschehen war.
Sie war ferner keineswegs eine Abweichung von der natürlichen Entwickelung
unsrer Dichtkunst, denn sie setzte nur das fort, was Lessing und Goethe selbst in
der ersten Periode seines Schaffens angebahnt hatten. Der Götz von Berli-
chingen, der Faust in seiner ersten Anlage, der Werther, die älteren Gedichte und
die Fastnachtsspiele waren durchaus der alten nationalen Kunstform und dem
unmittelbaren Inhalt des deutschen Lebens entnommen, und erst später hat sich
der Geschmack für die Antike ausgebildet. Daß mau in der Reaction zu weit
ging, war sehr natürlich, es lag zu nahe, dem farblosen für die nationalen
Voraussetzungen nicht geeigneten conventionellen Idealismus das Princip des
Grotesken entgegenzusetzen, wie es später von Seiten der neu-französischen
Romantiker geschehen ist; die eckigen, ungelenken, aber in ihrer Naivetät zuweilen
sehr anmuthigen Formen des deutschen Meistergesangs, des Fastnachtsspiels, des
Ammenmärcheus und Volksliedes gegen die Grazie der griechischen Kunstform
emporzuheben, sich ans der gute» Gesellschaft, die nach Goethes eigenem
Ausdruck ,,zu dem kleinsten Gedicht keine Gelegenheit gibt", in die untern Schichten
des Volkes, in die Handwerkskneipeu und Spinnstuben zurückzusehnen, die schonen
aber einförmigen Linien der Antike dnrch gothische Schnörkel und Arabesken zu
ersetzen, an Stelle der idealistischen Typen die Genremalerei einzuführen und die
Originalität auch da aufzusuchen, wo sie zu einer reinen Fratze ausgeartet war.
Es lief auch hier, wenigstens zum Theil, der alte Uebermuth des Dichters und
Studenten gegen die hergebrachte Alltäglichkeit des Philistcrlebens mit unter,
jener Ton, den Goethe zuerst angeschlagen hatte, und den die Romantiker nach
einer andern Seite hin ausbeuteten.
So ist dieses Streben nach Realismus, trotz seines scheinbaren Wider¬
spruchs, in einem gewissen Sinn mit jener Uebertreibung des poetischen Jdealis-
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