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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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manches auszusetzen sein, allein die Verbindung von gelehrter Forschung nud
populärer Darstellung in dem Ganzen ist um so anerkennenswerther, da es sich
hier um einen Gegenstand handelt, der den Geist der Nation auf das innigste
berührt. Nächst dem Nibelungenlied ist von den großen epischen Gedichten des
Mittelalters knnes, in welchem sich der deutsche Geist in seiner ganzen Fülle so
vernehmlich ansspräche, als Kndrun. Man hat mit Recht auf die Aehnlichkeit
aufmerksam gemacht, die zwischen dem Verhältniß dieser beiden Gedichte zueinan¬
der einerseits und zwischen dem Verhältnis; der Ilias zur Odyssee andererseits
stattfindet. Im Nibelungenlied wie in der Ilias erregt das Heroische des Krieges
und Kampfes das größte Interesse; in der Kudrun wie in der Odyssee ist das
abenteuerliche Seefahrerleben und sein Gegensatz, die Liebe zur Heimat, die
Grundfärbung des schönen Bildes.

Man hat von Seiten der strengen germanistischen Gelehrsamkeit sich sehr ent¬
schieden gegen die Versuche ausgesprochen, die mittelalterliche Poesie in freien
Uebersetzungen ins Hochdeutsche zu übertragen. Wenn schon in der Uebersetzung
ans einer fremden Sprache der poetische Duft und mit ihm der eigentliche Reiz
der Poesie verloren geht, so ist das noch vielmehr der Fall bei der Uebertragung
aus einer älteren Form derselben Sprache in eine neuere; denn mit der Ver¬
wandtschaft der Idiome mehren sich die Schwierigkeiten der Uebersetzung. Indeß
dieser Uebelstand vermindert sich, wenn, wie es hier der Fall ist, die Uebersetzung
sich bescheidet, die Lectüre der alte" Form zu erleichtern. Diesem Zweck entspricht
die hier beigefügte Uebersetzung vollkommen, und da doch selten in unsern Schulen
die Kenntniß des Mittelhochdeutsche" soweit gefördert wird, daß wir die älter"
Gedichte mit einem unmittelbaren Vergnügen lesen können, so ist diese Erleich¬
terung im Interesse des Volks wie im Interesse der Wissenschaft, die doch zum
Theil von den populären Sympathien abhängt, nnr wünschenswert!).

Dem Abdruck des Textes und der zur Seite stehenden Uebersetzung sind
noch eine Reihe selbstständiger Abhandlungen hinzugefügt, die sich auf Kudrun
beziehen. Zunächst eine Vergleichung zwischen dem griechischen und deutschen
Epos. Gegen die Ansichten des Verfassers werden sich wol viele Einwendungen
machen lassen. Er sagt z. B. S. "Das homerische Metrum zerstört den
Accent, der die natürliche Betonung der Sprache bezeichnet. Der Grieche behan¬
delte seine Sprache als Material und verarbeitete sie in metrische Kunstformen;
schon hieraus geht hervor, daß auch der epische Stoff in analoger Weise darge¬
stellt, daß die ganze Ausdrucksweise uach einem erfundenen Maßstab geregelt, daß
gewissermaßen die Natur auf eine andere Potenz erhoben werden mußte, um in
das ganze Schaffen Einheit zu bringen. Die natürlichen Wendungen des Grie¬
chischen waren sür Hexameter meist nicht zu gebrauchen. Die deutsche Metrik
dagegen componirt ihre Strophen, indem sie die natürlichen Rhythmen der Sprache
zum musikalischen Ganzen zusammenfaßt, und deswegen kann sich die ganze Dar-


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manches auszusetzen sein, allein die Verbindung von gelehrter Forschung nud
populärer Darstellung in dem Ganzen ist um so anerkennenswerther, da es sich
hier um einen Gegenstand handelt, der den Geist der Nation auf das innigste
berührt. Nächst dem Nibelungenlied ist von den großen epischen Gedichten des
Mittelalters knnes, in welchem sich der deutsche Geist in seiner ganzen Fülle so
vernehmlich ansspräche, als Kndrun. Man hat mit Recht auf die Aehnlichkeit
aufmerksam gemacht, die zwischen dem Verhältniß dieser beiden Gedichte zueinan¬
der einerseits und zwischen dem Verhältnis; der Ilias zur Odyssee andererseits
stattfindet. Im Nibelungenlied wie in der Ilias erregt das Heroische des Krieges
und Kampfes das größte Interesse; in der Kudrun wie in der Odyssee ist das
abenteuerliche Seefahrerleben und sein Gegensatz, die Liebe zur Heimat, die
Grundfärbung des schönen Bildes.

Man hat von Seiten der strengen germanistischen Gelehrsamkeit sich sehr ent¬
schieden gegen die Versuche ausgesprochen, die mittelalterliche Poesie in freien
Uebersetzungen ins Hochdeutsche zu übertragen. Wenn schon in der Uebersetzung
ans einer fremden Sprache der poetische Duft und mit ihm der eigentliche Reiz
der Poesie verloren geht, so ist das noch vielmehr der Fall bei der Uebertragung
aus einer älteren Form derselben Sprache in eine neuere; denn mit der Ver¬
wandtschaft der Idiome mehren sich die Schwierigkeiten der Uebersetzung. Indeß
dieser Uebelstand vermindert sich, wenn, wie es hier der Fall ist, die Uebersetzung
sich bescheidet, die Lectüre der alte» Form zu erleichtern. Diesem Zweck entspricht
die hier beigefügte Uebersetzung vollkommen, und da doch selten in unsern Schulen
die Kenntniß des Mittelhochdeutsche» soweit gefördert wird, daß wir die älter»
Gedichte mit einem unmittelbaren Vergnügen lesen können, so ist diese Erleich¬
terung im Interesse des Volks wie im Interesse der Wissenschaft, die doch zum
Theil von den populären Sympathien abhängt, nnr wünschenswert!).

Dem Abdruck des Textes und der zur Seite stehenden Uebersetzung sind
noch eine Reihe selbstständiger Abhandlungen hinzugefügt, die sich auf Kudrun
beziehen. Zunächst eine Vergleichung zwischen dem griechischen und deutschen
Epos. Gegen die Ansichten des Verfassers werden sich wol viele Einwendungen
machen lassen. Er sagt z. B. S. „Das homerische Metrum zerstört den
Accent, der die natürliche Betonung der Sprache bezeichnet. Der Grieche behan¬
delte seine Sprache als Material und verarbeitete sie in metrische Kunstformen;
schon hieraus geht hervor, daß auch der epische Stoff in analoger Weise darge¬
stellt, daß die ganze Ausdrucksweise uach einem erfundenen Maßstab geregelt, daß
gewissermaßen die Natur auf eine andere Potenz erhoben werden mußte, um in
das ganze Schaffen Einheit zu bringen. Die natürlichen Wendungen des Grie¬
chischen waren sür Hexameter meist nicht zu gebrauchen. Die deutsche Metrik
dagegen componirt ihre Strophen, indem sie die natürlichen Rhythmen der Sprache
zum musikalischen Ganzen zusammenfaßt, und deswegen kann sich die ganze Dar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/393>, abgerufen am 01.07.2024.