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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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diese scheinbare Ueberlegenheit des Urtheils auch in ihren Werken anzuwenden
suchen. Die deutschen Frauen lassen sich in ihren Romanen über höhere Politik,
Theologie, Philosophie, über Feldzugspläne und über die Homöopathie, über
Dreieinigkeit nud über die französische Revolution mit einer Unbefangenheit ver¬
nehmen, die Erstaunen erregt. Nicht allein, daß ihnen in der Regel alle Elemente
fehlen, die zur Bildung eines richtigen Urtheils in solchen allgemeinen Fragen
nöthig sind, und daß ihre Urtheile fast lediglich auf Reminiscenzen herauskommen,
sie haben auch nicht die Fähigkeit, von individuellen Verhältnissen zu abstrahiren
und sich Regeln und Grundsätze zu bilden. Man kann daher überall ohne
weiteres annehmen, daß ihren Sympathien für politische und religiöse Parteien
individuelle Beziehungen zu Grunde liegen. In Deutschland ist diese Art und
Weise des Urtheils um so unangenehmer, da unsre öffentlichen Verhältnisse gar
keine bestimmte Physiognomie haben, und da ein sehr ernstes Nachdenken und
eine große Abstractionskraft dazu gehört, sich einigermaßen zu orientiren. Daß
unsre Zustände in großer Verwirrung sind, und daß diese Verwirrung sich auch
im Gemüth der Einzelnen geltend macht, sieht wol jeder sehr leicht, und es ist
vielleicht grade darin die Neigung unsrer schriftstellerischen Damen für Darstellung
politischer Verhältnisse zu suchen, denn die vorausgesetzte Verwirrung im all¬
gemeinen gibt ihnen jedermann zu, und was sie nnn im einzelnen daraus machen
wollen, das scheint Sache des Geschmacks und der Laune zu sein. Machen es
doch unsre gefeierten männlichen Romanschreiber nicht besser. Sie schildern anch
lauter gebrochene Charaktere, d. h. Charaktere, die keine Charaktere sind, die
jeden Augenblick etwas Anderes empfinden, etwas Anderes denken, etwas Anderes
wollen, die kein Gewissen und keinen Stolz haben, Wenn eine Fran sich geistig
emancipirt, d. h. wenn sie Jnstinct und Gewissen verleugnet, und sich lediglich
durch Reflexion und Analyse bestimmen läßt, so geht sie in der Regel noch viel
weiter, als ein Mann. Wir erinnern uns an die Recension eines englischen
Kritikers im Athenäum über einen deutschen Roman. Der Recensent tadelte den
Herrn N. N., den Verfasser desselben, wegen seiner Unsittlichkeit, und setzte hinzu,
er hätte nicht geglaubt, daß ein Deutscher so schmutzig sein könne. Was hätte
er erst gesagt, wenn er gewußt hätte, daß Herr N. N. eine Frau war! Leider
ist grade von den Frauen in Deutschland vieles geschrieben worden, was wir
nur mit einem sittlichen und ästhetischen Widerwillen betrachten können.

Wenn daher Fanny Lewald in der Reihe unsrer Schriftstellerinnen eine
sehr geachtete Stellung einnimmt, so liegt der Grund nicht blos in ihrem un¬
gewöhnlichen Verstand und ihrer ungewöhnlichen Beobachtungsgabe, sondern vor
allen Dingen in ihrer redlichen Empfindung und in ihrem guten Gewissen.
Sie hat der Zeit auch ihren Tribut abgetragen, sie hat über allgemeine
Politik und Religion sehr viel reflectirt. Selbst wenn es eiuer Frau gelingen
sollte, was gar nicht denkbar ist, sich über eine politische Frage so genau zu


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diese scheinbare Ueberlegenheit des Urtheils auch in ihren Werken anzuwenden
suchen. Die deutschen Frauen lassen sich in ihren Romanen über höhere Politik,
Theologie, Philosophie, über Feldzugspläne und über die Homöopathie, über
Dreieinigkeit nud über die französische Revolution mit einer Unbefangenheit ver¬
nehmen, die Erstaunen erregt. Nicht allein, daß ihnen in der Regel alle Elemente
fehlen, die zur Bildung eines richtigen Urtheils in solchen allgemeinen Fragen
nöthig sind, und daß ihre Urtheile fast lediglich auf Reminiscenzen herauskommen,
sie haben auch nicht die Fähigkeit, von individuellen Verhältnissen zu abstrahiren
und sich Regeln und Grundsätze zu bilden. Man kann daher überall ohne
weiteres annehmen, daß ihren Sympathien für politische und religiöse Parteien
individuelle Beziehungen zu Grunde liegen. In Deutschland ist diese Art und
Weise des Urtheils um so unangenehmer, da unsre öffentlichen Verhältnisse gar
keine bestimmte Physiognomie haben, und da ein sehr ernstes Nachdenken und
eine große Abstractionskraft dazu gehört, sich einigermaßen zu orientiren. Daß
unsre Zustände in großer Verwirrung sind, und daß diese Verwirrung sich auch
im Gemüth der Einzelnen geltend macht, sieht wol jeder sehr leicht, und es ist
vielleicht grade darin die Neigung unsrer schriftstellerischen Damen für Darstellung
politischer Verhältnisse zu suchen, denn die vorausgesetzte Verwirrung im all¬
gemeinen gibt ihnen jedermann zu, und was sie nnn im einzelnen daraus machen
wollen, das scheint Sache des Geschmacks und der Laune zu sein. Machen es
doch unsre gefeierten männlichen Romanschreiber nicht besser. Sie schildern anch
lauter gebrochene Charaktere, d. h. Charaktere, die keine Charaktere sind, die
jeden Augenblick etwas Anderes empfinden, etwas Anderes denken, etwas Anderes
wollen, die kein Gewissen und keinen Stolz haben, Wenn eine Fran sich geistig
emancipirt, d. h. wenn sie Jnstinct und Gewissen verleugnet, und sich lediglich
durch Reflexion und Analyse bestimmen läßt, so geht sie in der Regel noch viel
weiter, als ein Mann. Wir erinnern uns an die Recension eines englischen
Kritikers im Athenäum über einen deutschen Roman. Der Recensent tadelte den
Herrn N. N., den Verfasser desselben, wegen seiner Unsittlichkeit, und setzte hinzu,
er hätte nicht geglaubt, daß ein Deutscher so schmutzig sein könne. Was hätte
er erst gesagt, wenn er gewußt hätte, daß Herr N. N. eine Frau war! Leider
ist grade von den Frauen in Deutschland vieles geschrieben worden, was wir
nur mit einem sittlichen und ästhetischen Widerwillen betrachten können.

Wenn daher Fanny Lewald in der Reihe unsrer Schriftstellerinnen eine
sehr geachtete Stellung einnimmt, so liegt der Grund nicht blos in ihrem un¬
gewöhnlichen Verstand und ihrer ungewöhnlichen Beobachtungsgabe, sondern vor
allen Dingen in ihrer redlichen Empfindung und in ihrem guten Gewissen.
Sie hat der Zeit auch ihren Tribut abgetragen, sie hat über allgemeine
Politik und Religion sehr viel reflectirt. Selbst wenn es eiuer Frau gelingen
sollte, was gar nicht denkbar ist, sich über eine politische Frage so genau zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/369>, abgerufen am 23.07.2024.