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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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höher"? Grade von dem abgeschwächte" Humanismus, der sich mit den christlichen
Vorstellungen bis zu einer gewisse" Grenze verständigen will, der also nicht
einmal i" seiner Kritik ehrlich und gewissenhaft zu Werke geht.

Mau hat häufig deu antireligiösen Schriften zum Vorwurf gemacht, selbst
wenn man sich in gewissem Sinn mit ihnen einverstanden erklärte, daß es leicht¬
sinnig sei, die vorhandene Grundlage der menschlichen Sittlichkeit anzutasten, bevor
man etwas Neues wüßte, was man an dessen Stelle setzen konnte. -- Dieser
Vorwurf ist in dem Fall gegründet, wenn man an das Gefühl und die Leiden¬
schaften appellirt, aber nicht, wenn man sich im Reich der Erkenntniß bewegt.
In der wissenschaftlichen Erkenntniß liegt ein kategorischer Imperativ, der gar
keine Nebenrücksichten zuläßt. Die Wissenschaft muß erkenne", sie muß das
Gegebene nach dem ihr i"ivvh"e"deu Gesetz analysiren, auch wenn man ihr
nachweisen wollte, daß darüber die Welt zu Grunde geht. Sie hat gar nicht
die Wahl, ob sie in einer gegebene" Frage Ja oder Nein sagen soll; sie muß
es de" bestehende" Gemälde" überlassen, ob sie etwaigen schädlichen Einflüsse" der
Erkenntniß politische Maßregeln entgegensetzen wolle". Sie selber kann diese Rück¬
sichten nicht nehmen. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die streng und folgerichtig
ihrem Princip nachgeht, kann im Interesse der öffentliche" Wohlfahrt angefochten
werden, wenn sie herrschende Lehren untergräbt, aber es kann ihr kein sittlicher
Vorwurf gemacht werden. Sobald sie dagegen praktische Rücksichten nimmt,
sobald sie nicht im Interesse der Erkenntniß, sonder" im Interesse einer neu zu
gründenden Religion ihren Stoss behandelt und nach diesen Gesichtspunkte" ihre
Auswahl trifft, verliert sie das Vorrecht wissenschaftlicher Integrität und wird
verantwortlich für das, was sie sagt.

Und aus diesem Gesichtspunkte müssen wir allerdings gegen die Verkündiger
des neue" Evangeliums denselben Tadel aussprechen, den die Kirche gegen sie
ausspricht, wir, die wir für die wirkliche Forschung die unbedingteste Freiheit in
Anspruch nehmen. Wenn wir dialektische Irrthümer begehen, so kann man n"S
widerlegen, die Schranken stehen jedermann offen; wenn wir aber die Leiden¬
schaften aufrufen, so müssen wir uus vorher den Stoff klar mache", de" wir ih¬
nen zu bieten haben. Nun sind die Mißbräuche, die sich in Beziehung auf die
factischen Verhältnisse der Sittlichkeit an die verschiedene" christliche" Kirchen ge¬
knüpft habe", theils innerhalb dieser Kirchen selbst, theils durch die Staatsgewalt
zu beseitigen. Der Protestantismus kann alle pietistischer und pharisäische" Ver-
irrungen aus eigener Kraft bekämpfen, und gegen die Jesuiten, oder wenn man
den andern Ausdruck vorzieht, gegen den Ultramontanismus, haben sich in der ka¬
tholischen Kirche selbst Kämpfer erhoben. Von dieser Seite ist es also nicht noth-
wendig, die Kirchen zu untergraben. Was die VerstandeSbildung betrifft, die
dnrch die Dogmen gefährdet werden könnte, so ist die Burg der Wissenschaft jetzt
so fest begründet, daß man vou hier aus mit dem größten Vertraue" alle Jrr-


it*

höher»? Grade von dem abgeschwächte» Humanismus, der sich mit den christlichen
Vorstellungen bis zu einer gewisse» Grenze verständigen will, der also nicht
einmal i» seiner Kritik ehrlich und gewissenhaft zu Werke geht.

Mau hat häufig deu antireligiösen Schriften zum Vorwurf gemacht, selbst
wenn man sich in gewissem Sinn mit ihnen einverstanden erklärte, daß es leicht¬
sinnig sei, die vorhandene Grundlage der menschlichen Sittlichkeit anzutasten, bevor
man etwas Neues wüßte, was man an dessen Stelle setzen konnte. — Dieser
Vorwurf ist in dem Fall gegründet, wenn man an das Gefühl und die Leiden¬
schaften appellirt, aber nicht, wenn man sich im Reich der Erkenntniß bewegt.
In der wissenschaftlichen Erkenntniß liegt ein kategorischer Imperativ, der gar
keine Nebenrücksichten zuläßt. Die Wissenschaft muß erkenne», sie muß das
Gegebene nach dem ihr i»ivvh»e»deu Gesetz analysiren, auch wenn man ihr
nachweisen wollte, daß darüber die Welt zu Grunde geht. Sie hat gar nicht
die Wahl, ob sie in einer gegebene» Frage Ja oder Nein sagen soll; sie muß
es de» bestehende» Gemälde» überlassen, ob sie etwaigen schädlichen Einflüsse» der
Erkenntniß politische Maßregeln entgegensetzen wolle». Sie selber kann diese Rück¬
sichten nicht nehmen. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die streng und folgerichtig
ihrem Princip nachgeht, kann im Interesse der öffentliche» Wohlfahrt angefochten
werden, wenn sie herrschende Lehren untergräbt, aber es kann ihr kein sittlicher
Vorwurf gemacht werden. Sobald sie dagegen praktische Rücksichten nimmt,
sobald sie nicht im Interesse der Erkenntniß, sonder» im Interesse einer neu zu
gründenden Religion ihren Stoss behandelt und nach diesen Gesichtspunkte» ihre
Auswahl trifft, verliert sie das Vorrecht wissenschaftlicher Integrität und wird
verantwortlich für das, was sie sagt.

Und aus diesem Gesichtspunkte müssen wir allerdings gegen die Verkündiger
des neue» Evangeliums denselben Tadel aussprechen, den die Kirche gegen sie
ausspricht, wir, die wir für die wirkliche Forschung die unbedingteste Freiheit in
Anspruch nehmen. Wenn wir dialektische Irrthümer begehen, so kann man n»S
widerlegen, die Schranken stehen jedermann offen; wenn wir aber die Leiden¬
schaften aufrufen, so müssen wir uus vorher den Stoff klar mache», de» wir ih¬
nen zu bieten haben. Nun sind die Mißbräuche, die sich in Beziehung auf die
factischen Verhältnisse der Sittlichkeit an die verschiedene» christliche» Kirchen ge¬
knüpft habe», theils innerhalb dieser Kirchen selbst, theils durch die Staatsgewalt
zu beseitigen. Der Protestantismus kann alle pietistischer und pharisäische» Ver-
irrungen aus eigener Kraft bekämpfen, und gegen die Jesuiten, oder wenn man
den andern Ausdruck vorzieht, gegen den Ultramontanismus, haben sich in der ka¬
tholischen Kirche selbst Kämpfer erhoben. Von dieser Seite ist es also nicht noth-
wendig, die Kirchen zu untergraben. Was die VerstandeSbildung betrifft, die
dnrch die Dogmen gefährdet werden könnte, so ist die Burg der Wissenschaft jetzt
so fest begründet, daß man vou hier aus mit dem größten Vertraue» alle Jrr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/353>, abgerufen am 01.07.2024.