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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Die Fabriken Englands gewannen bedeutend durch den Zufluß der intelli¬
genten französischen Arbeiter, denn sowie ihre Schätzbarkeit einmal bekannt war,
erhielten katholische Arbeiter dieselbe Aufmunterung wie protestantische und es
entstanden ganze neue Fabrikationszweige in England. Von den 20,000 Webern
die in Laval und der Umgegend wohnten, zogen 14,000 nach England und führ¬
ten dort die Fabrikation von Segelleinen ein, deren Monopol Frankreich bis dahin
gehabt hatte. Aus Tours und Lyon zogen zahlreiche Seidenwcber nach London
und Canterbury, das 1694 mehr als 1000 Seidenwebstühle besaß, während in
Lyon die Zahl von 13,000 auf 4000 gesunken war. Ganz dasselbe widerholte
sich mit der Fabrikation von Sammt, Uhren, Krystallen, Quincaillerie, chirurgischer
Instrumente, Badister, Hüten, Teppichen u. s. w. England fabricirte jetzt selbst für 47
Mill. Livres Waaren, die es bisher aus Frankreich bezogen, nud raubte ihm jetzt selbst
ganze Fabrikzweige, mit dem es nun, anstatt Frankreich, das Ausland versorgt.

Während die Nachbarstaaten auf diese Weise sich durch frauzöstschen Fleiß
und französische Geschicklichkeit bereicherten, sank Frankreich immer tiefer von dem
hohen industriellen Standpunkt herab, den es eingenommen. Von den 400 Gerbe¬
reien der Touraine waren 1698 uur uoch S4 vorhanden, von 3000 Stühlen zum
Seideuwebcu nur 1200; von 700 Seidenspinnereien nnr noch 70; von 40,000
Seidenarbeitcrn nur 4000 ; von 3000 Bandwebstühlen nicht 60; der Verbrauch
von Seide war von 2400 Ballen auf 7--800 gefallen. Ans der Normandie
allein waren 184,000 Protestanten ausgewandert, und die Industrie dieser Pro¬
vinz war auf viele Jahre hinaus zu Grunde gerichtet. Im ganzen berechnet
man die Zahl der wegen den religiösen Verfolgungen Ausgewanderten auf 400,000,
und 300,000 starben im Cevennenkriege, auf den Schaffvten oder aus Noth und
Hunger auf der Flucht in Wäldern und Gebirgen. Welchen Nutzen haben Reli¬
gion oder Politik davon gezogen? Keinen. Die Zahl der Protestanten, die bei
20 Millionen Einwohner damals 1,200,000 war, ist jetzt bei 36 Mill. 1,800,000,
hat sich also gut wie gar nicht vermindert. Dagegen hat die Furcht vor religiösem
Despotismus viele in die Arme des Indifferentismus geworfen, oder sie gar zu
Feinden der Kirche und der Religion überhaupt gemacht. Die politischen Folgen
waren, daß Frankreich selbst höchst werthvolle Elemente der Kraft verlor, und in
den Nachbarstaaten sich Elemente erbitterter Opposition festsetzten, welche zu fort¬
währender Feindschaft gegen Ludwig XIV. reizten und seine Pläne beständig
durchkreuzten.

Aber nicht blos nach den Nachbarstaaten, sondern auch nach den fernen
Norden und Osten, nach Schweden und Rußland, wendeten sich die Nefngiös,
und sogar nach der neuen Welt. Schon im 16. Jahrhundert hatten während
den Neligionswirren französische Protestanten Gewissensfreiheit jenseits des Oceans
gesucht. Nach zwei fehlgeschlagenen Expeditionen führte unter Colignys Be¬
günstigung Rene Laudonnisre eine neue nach der Mündung des Se. Jean an


Die Fabriken Englands gewannen bedeutend durch den Zufluß der intelli¬
genten französischen Arbeiter, denn sowie ihre Schätzbarkeit einmal bekannt war,
erhielten katholische Arbeiter dieselbe Aufmunterung wie protestantische und es
entstanden ganze neue Fabrikationszweige in England. Von den 20,000 Webern
die in Laval und der Umgegend wohnten, zogen 14,000 nach England und führ¬
ten dort die Fabrikation von Segelleinen ein, deren Monopol Frankreich bis dahin
gehabt hatte. Aus Tours und Lyon zogen zahlreiche Seidenwcber nach London
und Canterbury, das 1694 mehr als 1000 Seidenwebstühle besaß, während in
Lyon die Zahl von 13,000 auf 4000 gesunken war. Ganz dasselbe widerholte
sich mit der Fabrikation von Sammt, Uhren, Krystallen, Quincaillerie, chirurgischer
Instrumente, Badister, Hüten, Teppichen u. s. w. England fabricirte jetzt selbst für 47
Mill. Livres Waaren, die es bisher aus Frankreich bezogen, nud raubte ihm jetzt selbst
ganze Fabrikzweige, mit dem es nun, anstatt Frankreich, das Ausland versorgt.

Während die Nachbarstaaten auf diese Weise sich durch frauzöstschen Fleiß
und französische Geschicklichkeit bereicherten, sank Frankreich immer tiefer von dem
hohen industriellen Standpunkt herab, den es eingenommen. Von den 400 Gerbe¬
reien der Touraine waren 1698 uur uoch S4 vorhanden, von 3000 Stühlen zum
Seideuwebcu nur 1200; von 700 Seidenspinnereien nnr noch 70; von 40,000
Seidenarbeitcrn nur 4000 ; von 3000 Bandwebstühlen nicht 60; der Verbrauch
von Seide war von 2400 Ballen auf 7—800 gefallen. Ans der Normandie
allein waren 184,000 Protestanten ausgewandert, und die Industrie dieser Pro¬
vinz war auf viele Jahre hinaus zu Grunde gerichtet. Im ganzen berechnet
man die Zahl der wegen den religiösen Verfolgungen Ausgewanderten auf 400,000,
und 300,000 starben im Cevennenkriege, auf den Schaffvten oder aus Noth und
Hunger auf der Flucht in Wäldern und Gebirgen. Welchen Nutzen haben Reli¬
gion oder Politik davon gezogen? Keinen. Die Zahl der Protestanten, die bei
20 Millionen Einwohner damals 1,200,000 war, ist jetzt bei 36 Mill. 1,800,000,
hat sich also gut wie gar nicht vermindert. Dagegen hat die Furcht vor religiösem
Despotismus viele in die Arme des Indifferentismus geworfen, oder sie gar zu
Feinden der Kirche und der Religion überhaupt gemacht. Die politischen Folgen
waren, daß Frankreich selbst höchst werthvolle Elemente der Kraft verlor, und in
den Nachbarstaaten sich Elemente erbitterter Opposition festsetzten, welche zu fort¬
währender Feindschaft gegen Ludwig XIV. reizten und seine Pläne beständig
durchkreuzten.

Aber nicht blos nach den Nachbarstaaten, sondern auch nach den fernen
Norden und Osten, nach Schweden und Rußland, wendeten sich die Nefngiös,
und sogar nach der neuen Welt. Schon im 16. Jahrhundert hatten während
den Neligionswirren französische Protestanten Gewissensfreiheit jenseits des Oceans
gesucht. Nach zwei fehlgeschlagenen Expeditionen führte unter Colignys Be¬
günstigung Rene Laudonnisre eine neue nach der Mündung des Se. Jean an


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[0323] Die Fabriken Englands gewannen bedeutend durch den Zufluß der intelli¬ genten französischen Arbeiter, denn sowie ihre Schätzbarkeit einmal bekannt war, erhielten katholische Arbeiter dieselbe Aufmunterung wie protestantische und es entstanden ganze neue Fabrikationszweige in England. Von den 20,000 Webern die in Laval und der Umgegend wohnten, zogen 14,000 nach England und führ¬ ten dort die Fabrikation von Segelleinen ein, deren Monopol Frankreich bis dahin gehabt hatte. Aus Tours und Lyon zogen zahlreiche Seidenwcber nach London und Canterbury, das 1694 mehr als 1000 Seidenwebstühle besaß, während in Lyon die Zahl von 13,000 auf 4000 gesunken war. Ganz dasselbe widerholte sich mit der Fabrikation von Sammt, Uhren, Krystallen, Quincaillerie, chirurgischer Instrumente, Badister, Hüten, Teppichen u. s. w. England fabricirte jetzt selbst für 47 Mill. Livres Waaren, die es bisher aus Frankreich bezogen, nud raubte ihm jetzt selbst ganze Fabrikzweige, mit dem es nun, anstatt Frankreich, das Ausland versorgt. Während die Nachbarstaaten auf diese Weise sich durch frauzöstschen Fleiß und französische Geschicklichkeit bereicherten, sank Frankreich immer tiefer von dem hohen industriellen Standpunkt herab, den es eingenommen. Von den 400 Gerbe¬ reien der Touraine waren 1698 uur uoch S4 vorhanden, von 3000 Stühlen zum Seideuwebcu nur 1200; von 700 Seidenspinnereien nnr noch 70; von 40,000 Seidenarbeitcrn nur 4000 ; von 3000 Bandwebstühlen nicht 60; der Verbrauch von Seide war von 2400 Ballen auf 7—800 gefallen. Ans der Normandie allein waren 184,000 Protestanten ausgewandert, und die Industrie dieser Pro¬ vinz war auf viele Jahre hinaus zu Grunde gerichtet. Im ganzen berechnet man die Zahl der wegen den religiösen Verfolgungen Ausgewanderten auf 400,000, und 300,000 starben im Cevennenkriege, auf den Schaffvten oder aus Noth und Hunger auf der Flucht in Wäldern und Gebirgen. Welchen Nutzen haben Reli¬ gion oder Politik davon gezogen? Keinen. Die Zahl der Protestanten, die bei 20 Millionen Einwohner damals 1,200,000 war, ist jetzt bei 36 Mill. 1,800,000, hat sich also gut wie gar nicht vermindert. Dagegen hat die Furcht vor religiösem Despotismus viele in die Arme des Indifferentismus geworfen, oder sie gar zu Feinden der Kirche und der Religion überhaupt gemacht. Die politischen Folgen waren, daß Frankreich selbst höchst werthvolle Elemente der Kraft verlor, und in den Nachbarstaaten sich Elemente erbitterter Opposition festsetzten, welche zu fort¬ währender Feindschaft gegen Ludwig XIV. reizten und seine Pläne beständig durchkreuzten. Aber nicht blos nach den Nachbarstaaten, sondern auch nach den fernen Norden und Osten, nach Schweden und Rußland, wendeten sich die Nefngiös, und sogar nach der neuen Welt. Schon im 16. Jahrhundert hatten während den Neligionswirren französische Protestanten Gewissensfreiheit jenseits des Oceans gesucht. Nach zwei fehlgeschlagenen Expeditionen führte unter Colignys Be¬ günstigung Rene Laudonnisre eine neue nach der Mündung des Se. Jean an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/323>, abgerufen am 01.07.2024.