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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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schungen, auch wenn sie nicht grade dasjenige Ziel erreichten, welches sie sich
gesteckt hatten, dennoch auf die Entwickelung unserer Wissenschaften und Künste,
auf unser religiöses und sittliches Denken und Empfinden die fruchtbarste und
nachhaltigste Einwirkung ausgeübt haben. Wir lernen also die Philosophie als
einen integrirenden Theil unser Literatur betrachten, ja ihr Sinn geht uns in ge¬
wisser Beziehung deutlicher auf, als den Philosophen selbst.

Um unsern eignen Standpunkt dem des Verfassers gegenüber anzudeuten,
bemerken wir, daß für uns der Werth und die Bedeutung der Philosophie ganz
und gar in denjenigen Momenten aufgeht, die wir bisher geschildert haben. Für
uus gehört die Philosophie ganz und gar der Zeit an; sie behandelt die Probleme,
welche die Zeit bewegen, und denen die Kunst instinctiv nachgeht, in einer me¬
thodischen Form, und sie ist von den Ideen der Zeit um so tiefer erfüllt, je
weniger sie es weiß, je zuversichtlicher sie davou überzeugt ist, nur für die den
Bedingungen der Zeit entnommene Wissenschaft zu schaffen.

Dieser Ansicht ist Herr Ritter keineswegs. Was wir als das Wesen, als
den Charakter und als die Bedeutung der Philosophie auffassen, sieht er nnr als
ihren Mangel, als ihre UnVollkommenheit, als dasjenige an, was eigentlich nicht
da sein sollte. Ihm ist die Philosophie um so unvollkommener, je mehr sie in
die Ideen der Zeit verstrickt ist, und er betrachtet es als seine Hauptausgabe,
diejenigen -Resultate aufzufinden, die mit den endlichen Bedingungen der Zeit
nichts mehr zu thun haben.

Ueber diese Ansicht läßt sich streiten. Wir wissen sogar sehr wohl, daß die
ungeheure Mehrzahl derer, die sich überhaupt mit Philosophie beschäftigen, für
Herrn Ritter und gegen uus Partei nehmen werden. Allein in diesem Fall hat
Herr Ritter seine Ausgabe nicht gelöst. Er hat die Unvollkommenheit der ein¬
zelnen philosophischen Richtungen sehr scharfsinnig entwickelt/ er hat auch immer
ganz treffend gezeigt, welche von diesen Unvollkommenheiten die eine oder die andre
dieser Richtungen überwand. Allein was eigentlich die Wissenschaft aus allen
diesen Streitigkeiten gewonnen hat, das hat er nicht gezeigt. Ob der Umfang
des Wissens in der Philosophie seit Aristoteles einen Erwerb gemacht hat, den
man schwarz auf weiß uach Hanse tragen könnte, wie es z. B. in sämmtlichen
Disciplinen der Naturwissenschaft in so ungeheuren, abenteuerlichem Maße der
Fall ist, das hat er uicht nachgewiesen. Ob die gegenwärtigen Versuche der
Philosophie, die sich wieder von der Construction zur Beobachtung gewandt haben,
in dieser Beziehung mehr leisten werden, ob im Fortgang der Entwickelung für
die Disciplin der Philosophie, abgesehen von der Methode, ein eigenes materielles
Gebiet sich herausstellen wird, das muß vorläufig noch eine Frage bleiben.

Noch eine Bemerkung müssen wir hinzufügen. In der Schrift des Herrn
Ritter begegnet uns nichts von jener scholastischen Form, die dem Laien den Zu¬
gang zu den philosophischen Lehrgebäude" sonst so sehr erschwert. Die Sätze


schungen, auch wenn sie nicht grade dasjenige Ziel erreichten, welches sie sich
gesteckt hatten, dennoch auf die Entwickelung unserer Wissenschaften und Künste,
auf unser religiöses und sittliches Denken und Empfinden die fruchtbarste und
nachhaltigste Einwirkung ausgeübt haben. Wir lernen also die Philosophie als
einen integrirenden Theil unser Literatur betrachten, ja ihr Sinn geht uns in ge¬
wisser Beziehung deutlicher auf, als den Philosophen selbst.

Um unsern eignen Standpunkt dem des Verfassers gegenüber anzudeuten,
bemerken wir, daß für uns der Werth und die Bedeutung der Philosophie ganz
und gar in denjenigen Momenten aufgeht, die wir bisher geschildert haben. Für
uus gehört die Philosophie ganz und gar der Zeit an; sie behandelt die Probleme,
welche die Zeit bewegen, und denen die Kunst instinctiv nachgeht, in einer me¬
thodischen Form, und sie ist von den Ideen der Zeit um so tiefer erfüllt, je
weniger sie es weiß, je zuversichtlicher sie davou überzeugt ist, nur für die den
Bedingungen der Zeit entnommene Wissenschaft zu schaffen.

Dieser Ansicht ist Herr Ritter keineswegs. Was wir als das Wesen, als
den Charakter und als die Bedeutung der Philosophie auffassen, sieht er nnr als
ihren Mangel, als ihre UnVollkommenheit, als dasjenige an, was eigentlich nicht
da sein sollte. Ihm ist die Philosophie um so unvollkommener, je mehr sie in
die Ideen der Zeit verstrickt ist, und er betrachtet es als seine Hauptausgabe,
diejenigen -Resultate aufzufinden, die mit den endlichen Bedingungen der Zeit
nichts mehr zu thun haben.

Ueber diese Ansicht läßt sich streiten. Wir wissen sogar sehr wohl, daß die
ungeheure Mehrzahl derer, die sich überhaupt mit Philosophie beschäftigen, für
Herrn Ritter und gegen uus Partei nehmen werden. Allein in diesem Fall hat
Herr Ritter seine Ausgabe nicht gelöst. Er hat die Unvollkommenheit der ein¬
zelnen philosophischen Richtungen sehr scharfsinnig entwickelt/ er hat auch immer
ganz treffend gezeigt, welche von diesen Unvollkommenheiten die eine oder die andre
dieser Richtungen überwand. Allein was eigentlich die Wissenschaft aus allen
diesen Streitigkeiten gewonnen hat, das hat er nicht gezeigt. Ob der Umfang
des Wissens in der Philosophie seit Aristoteles einen Erwerb gemacht hat, den
man schwarz auf weiß uach Hanse tragen könnte, wie es z. B. in sämmtlichen
Disciplinen der Naturwissenschaft in so ungeheuren, abenteuerlichem Maße der
Fall ist, das hat er uicht nachgewiesen. Ob die gegenwärtigen Versuche der
Philosophie, die sich wieder von der Construction zur Beobachtung gewandt haben,
in dieser Beziehung mehr leisten werden, ob im Fortgang der Entwickelung für
die Disciplin der Philosophie, abgesehen von der Methode, ein eigenes materielles
Gebiet sich herausstellen wird, das muß vorläufig noch eine Frage bleiben.

Noch eine Bemerkung müssen wir hinzufügen. In der Schrift des Herrn
Ritter begegnet uns nichts von jener scholastischen Form, die dem Laien den Zu¬
gang zu den philosophischen Lehrgebäude» sonst so sehr erschwert. Die Sätze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/140>, abgerufen am 01.07.2024.