Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

geht vielmehr sehr gründlich und gewissenhaft zu Werte, und man kann daher aus
jedem seiner Apercus viel lernen. -- Aber mau hat dabei immer das Gefühl der
Unsicherheit, und in der That ist er auch in den zwanzig Jahren, wo er sein
kritisches Geschäft treibt, in die allerentgegengcsetztcsten Extreme versallen. Einen
vollendeten Kritiker würden wir also denjenigen nennen, der diese beiden entgegen¬
gesetzten Eigenschaften Blanche's und Se. Beroe's zu vereinigen verstände.

In der neuern Zeit sind auch mehrere junge Kritiker aufgetreten, die
wenigstens dahin streben. Die meiste Auszeichnung verdient der Referent über
die englische Literatur in der Ksvue av8 äeax monäos, Emile Montagne.
Der Aussät) über Hawthorne's neuestes Werk, der in demselben Heft steht, ist
musterhaft und entwickelt die Verirrungen eines glaubensbedürftiger, aber inhalt¬
losen Herzens, das fortwährend nach Schattenbildern jagt, weil es nur der
Phantasie folgt und nicht den Regulator des Gewissens in sich trägt, ans das
Vortrefflichste.

Wir haben noch einen andern Grund, auf diese französischen Kritiker auf¬
merksam zu macheu. Die eigentlich wissenschaftliche Literatur aller Völker ist
kosmopolitisch. Die Fortschritte des einen Volks kommen, wenn auch nicht ganz
in demselben Umfange, allen übrigen zu Gute. Von den poetischen Leistungen
nimmt man wenigstens ungefähr Notiz. Dagegen bleibt das ästhetische Urtheil
bei jeder Nation im Ganzen isolirt, und nur in den seltensten Fällen giebt man
sich die Mühe, das Urtheil, welches man über deu Dichter einer fremden Nation
fällt, durch die Urtheile der nationalen Kritiker zu modificiren, und doch scheint
uns dieses höchst wichtig, deun nur auf diese Weise wird die Einseitigkeit des
ästhetische" Standpunkts aufgehoben. Freilich ist es gerade in diesem Punkt für
den Ausländer sehr schwer, die Spreu von dem Weizen zu sondern, und zu
unterscheide", welche Kritik überhaupt eine Berechtigung hat; aber es ist doch
möglich und es muß geschehn.




Die Sennhütte auf denk Zwiselberg.

Wenn man den Bergrücken überstiegen hat, der sich über dem Hallstädter
Salzberg erhebt, kommt man in die Gvsau, ein laug hingcdehnteö durchaus
angebautes Thal. Herr von Schröckinger-Neudcnberg giebt in seinem Reisehand¬
buche durch Salzburg und das Salzkammergut S. -123 von den Bewohnern der
Gosan die überraschende Nachricht, daß sie gemeinhin Gvsauer genannt werden,
wie auch daß sie sich in Kleidung und Sitten, vorzüglich aber durch den Dia¬
lekt wesentlich von den übrigen Kammergütlern unterscheiden. "Fester Körperban,
Einfachheit der Lebensweise, patriarchalische Sitten, vollkommene Ausbildung in


geht vielmehr sehr gründlich und gewissenhaft zu Werte, und man kann daher aus
jedem seiner Apercus viel lernen. — Aber mau hat dabei immer das Gefühl der
Unsicherheit, und in der That ist er auch in den zwanzig Jahren, wo er sein
kritisches Geschäft treibt, in die allerentgegengcsetztcsten Extreme versallen. Einen
vollendeten Kritiker würden wir also denjenigen nennen, der diese beiden entgegen¬
gesetzten Eigenschaften Blanche's und Se. Beroe's zu vereinigen verstände.

In der neuern Zeit sind auch mehrere junge Kritiker aufgetreten, die
wenigstens dahin streben. Die meiste Auszeichnung verdient der Referent über
die englische Literatur in der Ksvue av8 äeax monäos, Emile Montagne.
Der Aussät) über Hawthorne's neuestes Werk, der in demselben Heft steht, ist
musterhaft und entwickelt die Verirrungen eines glaubensbedürftiger, aber inhalt¬
losen Herzens, das fortwährend nach Schattenbildern jagt, weil es nur der
Phantasie folgt und nicht den Regulator des Gewissens in sich trägt, ans das
Vortrefflichste.

Wir haben noch einen andern Grund, auf diese französischen Kritiker auf¬
merksam zu macheu. Die eigentlich wissenschaftliche Literatur aller Völker ist
kosmopolitisch. Die Fortschritte des einen Volks kommen, wenn auch nicht ganz
in demselben Umfange, allen übrigen zu Gute. Von den poetischen Leistungen
nimmt man wenigstens ungefähr Notiz. Dagegen bleibt das ästhetische Urtheil
bei jeder Nation im Ganzen isolirt, und nur in den seltensten Fällen giebt man
sich die Mühe, das Urtheil, welches man über deu Dichter einer fremden Nation
fällt, durch die Urtheile der nationalen Kritiker zu modificiren, und doch scheint
uns dieses höchst wichtig, deun nur auf diese Weise wird die Einseitigkeit des
ästhetische» Standpunkts aufgehoben. Freilich ist es gerade in diesem Punkt für
den Ausländer sehr schwer, die Spreu von dem Weizen zu sondern, und zu
unterscheide», welche Kritik überhaupt eine Berechtigung hat; aber es ist doch
möglich und es muß geschehn.




Die Sennhütte auf denk Zwiselberg.

Wenn man den Bergrücken überstiegen hat, der sich über dem Hallstädter
Salzberg erhebt, kommt man in die Gvsau, ein laug hingcdehnteö durchaus
angebautes Thal. Herr von Schröckinger-Neudcnberg giebt in seinem Reisehand¬
buche durch Salzburg und das Salzkammergut S. -123 von den Bewohnern der
Gosan die überraschende Nachricht, daß sie gemeinhin Gvsauer genannt werden,
wie auch daß sie sich in Kleidung und Sitten, vorzüglich aber durch den Dia¬
lekt wesentlich von den übrigen Kammergütlern unterscheiden. „Fester Körperban,
Einfachheit der Lebensweise, patriarchalische Sitten, vollkommene Ausbildung in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0060" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185936"/>
          <p xml:id="ID_163" prev="#ID_162"> geht vielmehr sehr gründlich und gewissenhaft zu Werte, und man kann daher aus<lb/>
jedem seiner Apercus viel lernen. &#x2014; Aber mau hat dabei immer das Gefühl der<lb/>
Unsicherheit, und in der That ist er auch in den zwanzig Jahren, wo er sein<lb/>
kritisches Geschäft treibt, in die allerentgegengcsetztcsten Extreme versallen. Einen<lb/>
vollendeten Kritiker würden wir also denjenigen nennen, der diese beiden entgegen¬<lb/>
gesetzten Eigenschaften Blanche's und Se. Beroe's zu vereinigen verstände.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_164"> In der neuern Zeit sind auch mehrere junge Kritiker aufgetreten, die<lb/>
wenigstens dahin streben. Die meiste Auszeichnung verdient der Referent über<lb/>
die englische Literatur in der Ksvue av8 äeax monäos, Emile Montagne.<lb/>
Der Aussät) über Hawthorne's neuestes Werk, der in demselben Heft steht, ist<lb/>
musterhaft und entwickelt die Verirrungen eines glaubensbedürftiger, aber inhalt¬<lb/>
losen Herzens, das fortwährend nach Schattenbildern jagt, weil es nur der<lb/>
Phantasie folgt und nicht den Regulator des Gewissens in sich trägt, ans das<lb/>
Vortrefflichste.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_165"> Wir haben noch einen andern Grund, auf diese französischen Kritiker auf¬<lb/>
merksam zu macheu. Die eigentlich wissenschaftliche Literatur aller Völker ist<lb/>
kosmopolitisch. Die Fortschritte des einen Volks kommen, wenn auch nicht ganz<lb/>
in demselben Umfange, allen übrigen zu Gute. Von den poetischen Leistungen<lb/>
nimmt man wenigstens ungefähr Notiz. Dagegen bleibt das ästhetische Urtheil<lb/>
bei jeder Nation im Ganzen isolirt, und nur in den seltensten Fällen giebt man<lb/>
sich die Mühe, das Urtheil, welches man über deu Dichter einer fremden Nation<lb/>
fällt, durch die Urtheile der nationalen Kritiker zu modificiren, und doch scheint<lb/>
uns dieses höchst wichtig, deun nur auf diese Weise wird die Einseitigkeit des<lb/>
ästhetische» Standpunkts aufgehoben. Freilich ist es gerade in diesem Punkt für<lb/>
den Ausländer sehr schwer, die Spreu von dem Weizen zu sondern, und zu<lb/>
unterscheide», welche Kritik überhaupt eine Berechtigung hat; aber es ist doch<lb/>
möglich und es muß geschehn.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Sennhütte auf denk Zwiselberg.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_166" next="#ID_167"> Wenn man den Bergrücken überstiegen hat, der sich über dem Hallstädter<lb/>
Salzberg erhebt, kommt man in die Gvsau, ein laug hingcdehnteö durchaus<lb/>
angebautes Thal. Herr von Schröckinger-Neudcnberg giebt in seinem Reisehand¬<lb/>
buche durch Salzburg und das Salzkammergut S. -123 von den Bewohnern der<lb/>
Gosan die überraschende Nachricht, daß sie gemeinhin Gvsauer genannt werden,<lb/>
wie auch daß sie sich in Kleidung und Sitten, vorzüglich aber durch den Dia¬<lb/>
lekt wesentlich von den übrigen Kammergütlern unterscheiden. &#x201E;Fester Körperban,<lb/>
Einfachheit der Lebensweise, patriarchalische Sitten, vollkommene Ausbildung in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0060] geht vielmehr sehr gründlich und gewissenhaft zu Werte, und man kann daher aus jedem seiner Apercus viel lernen. — Aber mau hat dabei immer das Gefühl der Unsicherheit, und in der That ist er auch in den zwanzig Jahren, wo er sein kritisches Geschäft treibt, in die allerentgegengcsetztcsten Extreme versallen. Einen vollendeten Kritiker würden wir also denjenigen nennen, der diese beiden entgegen¬ gesetzten Eigenschaften Blanche's und Se. Beroe's zu vereinigen verstände. In der neuern Zeit sind auch mehrere junge Kritiker aufgetreten, die wenigstens dahin streben. Die meiste Auszeichnung verdient der Referent über die englische Literatur in der Ksvue av8 äeax monäos, Emile Montagne. Der Aussät) über Hawthorne's neuestes Werk, der in demselben Heft steht, ist musterhaft und entwickelt die Verirrungen eines glaubensbedürftiger, aber inhalt¬ losen Herzens, das fortwährend nach Schattenbildern jagt, weil es nur der Phantasie folgt und nicht den Regulator des Gewissens in sich trägt, ans das Vortrefflichste. Wir haben noch einen andern Grund, auf diese französischen Kritiker auf¬ merksam zu macheu. Die eigentlich wissenschaftliche Literatur aller Völker ist kosmopolitisch. Die Fortschritte des einen Volks kommen, wenn auch nicht ganz in demselben Umfange, allen übrigen zu Gute. Von den poetischen Leistungen nimmt man wenigstens ungefähr Notiz. Dagegen bleibt das ästhetische Urtheil bei jeder Nation im Ganzen isolirt, und nur in den seltensten Fällen giebt man sich die Mühe, das Urtheil, welches man über deu Dichter einer fremden Nation fällt, durch die Urtheile der nationalen Kritiker zu modificiren, und doch scheint uns dieses höchst wichtig, deun nur auf diese Weise wird die Einseitigkeit des ästhetische» Standpunkts aufgehoben. Freilich ist es gerade in diesem Punkt für den Ausländer sehr schwer, die Spreu von dem Weizen zu sondern, und zu unterscheide», welche Kritik überhaupt eine Berechtigung hat; aber es ist doch möglich und es muß geschehn. Die Sennhütte auf denk Zwiselberg. Wenn man den Bergrücken überstiegen hat, der sich über dem Hallstädter Salzberg erhebt, kommt man in die Gvsau, ein laug hingcdehnteö durchaus angebautes Thal. Herr von Schröckinger-Neudcnberg giebt in seinem Reisehand¬ buche durch Salzburg und das Salzkammergut S. -123 von den Bewohnern der Gosan die überraschende Nachricht, daß sie gemeinhin Gvsauer genannt werden, wie auch daß sie sich in Kleidung und Sitten, vorzüglich aber durch den Dia¬ lekt wesentlich von den übrigen Kammergütlern unterscheiden. „Fester Körperban, Einfachheit der Lebensweise, patriarchalische Sitten, vollkommene Ausbildung in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/60
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/60>, abgerufen am 04.07.2024.