Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zeugnng und zum Theil nach hartem Kampf mit sich selbst unterdrückt hat. Doch
wer unsere Bühnen kennt und weiß, wie schwer und unbequem es im Drang der
Tagesgeschäfte und bei dem ewigen Andrängen des Neuen einer Bühnenleitnng
wird, an dem Alten, Festen, bereits Gewonnenen zu rütteln, der wird nicht
verlangen, daß unser Fidelio dnrch Aufnahme der zahlreichen Schönheiten der
älteren Partitur umgestaltet werde, oder gar an seine Stelle die einfache, reine
Originalität der ursprünglichen Bearbeitung treten solle. Und sollte Jemand so
Etwas verlangen, er würde es sicher nicht durchsehen.

Ganz anders dagegen steht die Sache mit zwei Gesangstücken, welche in der
ursprünglichen Arbeit Beethoven's ein Schmuck derselben waren, welche der Meister
auch bei den Kürzungen der zweiten Bearbeitung noch nicht aufgeben wollte, und
die er erst bei der dritten ganz wegließ, wie wir wissen, gegen seine eigene,
bessere Ueberzeugung. Diese beiden Gesangstücke dem gegenwärtigen Fidelio
wiederzugeben ist sehr leicht und erscheint jetzt, wo wir die Große Beethoven's
und die Schönheit der Oper besser zu würdigen wissen, als eine Pflicht gegen
den Componisten und das Publicum, welches allerdings in genügendem Grade
die Geduld erworben hat, Beethoven's Musik zu ertragen. Diese beiden Musik"
stücke sind:

1) ein Terzett Ur. 3 des Clavierauszuges der Leonore: "Ein Mann ist bald
genommen" zwischen Rocco, Jacqnino und Marcelline. Es tritt ein in Act. -I.
Scene 2, nachdem Rocco die Bewerbung des Schließer Jacqnino abgewiesen bat,
nach den Worten: "Nein, lieber Jacqnino, von einer Heirath zwischen Euch und
Marcelline ist keine Rede" u. s. w. Dies Musikstück ist eben so launig und an¬
muthig, als charakteristisch, es schließt eine Situation und Stimmung musikalisch
ab und hat außerdem den Vorzug, die Partien der Marcelline und des im Fidelio
schlecht bedachten Jacqnino zu verbessern. 2) Duett Nro. 10 des Clavieraus-
znges zwischen Leonore und Marcelline tritt zu Folge der Einrichtung des Fidelio
ein nach Leonoren's großer Arie (Nro. 9 des Fidelio) in der sie sich Muth ein¬
spricht, nachdem sie den Pizarro belauscht hat. Unmittelbar nach dieser Arie
erscheint Marcelline, und nach einigen gesprochenen Worten folgt dies Duett, in
welchem Marcelline ihre Empfindungen über das Glück der projectirten Ehe mit
Fidelio ausspricht und Leonore ihre tragische Stimmung zu mastiren sucht. Die
reine, süße Unschuld Marcellinen's und der große, verhaltene Schmerz Leonoren's
welche in das Geplauder des Mädchens bald eingeht, bald ihren Schmerz über
die Täuschung der Kleinen ausdrückt, ist in Musik und selbst im Texte reizend
charakterisirt. Nach dem Duett Austritt Rocco's und die Bitte der Beiden, die
Gefangenen herauszulassen. Dies Duett ist als Musikstück wunderschön, es ver¬
bessert wesentlich die Partie der Marcelline, deren Charakter dadurch eine größere
Innigkeit und Wärme erhält, füllt aus seine zarte und anmuthige Weise eine
Lücke in der Charakteristik des Verhältnisses zwischen Leonore und Marcelline


zeugnng und zum Theil nach hartem Kampf mit sich selbst unterdrückt hat. Doch
wer unsere Bühnen kennt und weiß, wie schwer und unbequem es im Drang der
Tagesgeschäfte und bei dem ewigen Andrängen des Neuen einer Bühnenleitnng
wird, an dem Alten, Festen, bereits Gewonnenen zu rütteln, der wird nicht
verlangen, daß unser Fidelio dnrch Aufnahme der zahlreichen Schönheiten der
älteren Partitur umgestaltet werde, oder gar an seine Stelle die einfache, reine
Originalität der ursprünglichen Bearbeitung treten solle. Und sollte Jemand so
Etwas verlangen, er würde es sicher nicht durchsehen.

Ganz anders dagegen steht die Sache mit zwei Gesangstücken, welche in der
ursprünglichen Arbeit Beethoven's ein Schmuck derselben waren, welche der Meister
auch bei den Kürzungen der zweiten Bearbeitung noch nicht aufgeben wollte, und
die er erst bei der dritten ganz wegließ, wie wir wissen, gegen seine eigene,
bessere Ueberzeugung. Diese beiden Gesangstücke dem gegenwärtigen Fidelio
wiederzugeben ist sehr leicht und erscheint jetzt, wo wir die Große Beethoven's
und die Schönheit der Oper besser zu würdigen wissen, als eine Pflicht gegen
den Componisten und das Publicum, welches allerdings in genügendem Grade
die Geduld erworben hat, Beethoven's Musik zu ertragen. Diese beiden Musik»
stücke sind:

1) ein Terzett Ur. 3 des Clavierauszuges der Leonore: „Ein Mann ist bald
genommen" zwischen Rocco, Jacqnino und Marcelline. Es tritt ein in Act. -I.
Scene 2, nachdem Rocco die Bewerbung des Schließer Jacqnino abgewiesen bat,
nach den Worten: „Nein, lieber Jacqnino, von einer Heirath zwischen Euch und
Marcelline ist keine Rede" u. s. w. Dies Musikstück ist eben so launig und an¬
muthig, als charakteristisch, es schließt eine Situation und Stimmung musikalisch
ab und hat außerdem den Vorzug, die Partien der Marcelline und des im Fidelio
schlecht bedachten Jacqnino zu verbessern. 2) Duett Nro. 10 des Clavieraus-
znges zwischen Leonore und Marcelline tritt zu Folge der Einrichtung des Fidelio
ein nach Leonoren's großer Arie (Nro. 9 des Fidelio) in der sie sich Muth ein¬
spricht, nachdem sie den Pizarro belauscht hat. Unmittelbar nach dieser Arie
erscheint Marcelline, und nach einigen gesprochenen Worten folgt dies Duett, in
welchem Marcelline ihre Empfindungen über das Glück der projectirten Ehe mit
Fidelio ausspricht und Leonore ihre tragische Stimmung zu mastiren sucht. Die
reine, süße Unschuld Marcellinen's und der große, verhaltene Schmerz Leonoren's
welche in das Geplauder des Mädchens bald eingeht, bald ihren Schmerz über
die Täuschung der Kleinen ausdrückt, ist in Musik und selbst im Texte reizend
charakterisirt. Nach dem Duett Austritt Rocco's und die Bitte der Beiden, die
Gefangenen herauszulassen. Dies Duett ist als Musikstück wunderschön, es ver¬
bessert wesentlich die Partie der Marcelline, deren Charakter dadurch eine größere
Innigkeit und Wärme erhält, füllt aus seine zarte und anmuthige Weise eine
Lücke in der Charakteristik des Verhältnisses zwischen Leonore und Marcelline


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0471" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186347"/>
          <p xml:id="ID_1482" prev="#ID_1481"> zeugnng und zum Theil nach hartem Kampf mit sich selbst unterdrückt hat. Doch<lb/>
wer unsere Bühnen kennt und weiß, wie schwer und unbequem es im Drang der<lb/>
Tagesgeschäfte und bei dem ewigen Andrängen des Neuen einer Bühnenleitnng<lb/>
wird, an dem Alten, Festen, bereits Gewonnenen zu rütteln, der wird nicht<lb/>
verlangen, daß unser Fidelio dnrch Aufnahme der zahlreichen Schönheiten der<lb/>
älteren Partitur umgestaltet werde, oder gar an seine Stelle die einfache, reine<lb/>
Originalität der ursprünglichen Bearbeitung treten solle. Und sollte Jemand so<lb/>
Etwas verlangen, er würde es sicher nicht durchsehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1483"> Ganz anders dagegen steht die Sache mit zwei Gesangstücken, welche in der<lb/>
ursprünglichen Arbeit Beethoven's ein Schmuck derselben waren, welche der Meister<lb/>
auch bei den Kürzungen der zweiten Bearbeitung noch nicht aufgeben wollte, und<lb/>
die er erst bei der dritten ganz wegließ, wie wir wissen, gegen seine eigene,<lb/>
bessere Ueberzeugung. Diese beiden Gesangstücke dem gegenwärtigen Fidelio<lb/>
wiederzugeben ist sehr leicht und erscheint jetzt, wo wir die Große Beethoven's<lb/>
und die Schönheit der Oper besser zu würdigen wissen, als eine Pflicht gegen<lb/>
den Componisten und das Publicum, welches allerdings in genügendem Grade<lb/>
die Geduld erworben hat, Beethoven's Musik zu ertragen. Diese beiden Musik»<lb/>
stücke sind:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1484" next="#ID_1485"> 1) ein Terzett Ur. 3 des Clavierauszuges der Leonore: &#x201E;Ein Mann ist bald<lb/>
genommen" zwischen Rocco, Jacqnino und Marcelline. Es tritt ein in Act. -I.<lb/>
Scene 2, nachdem Rocco die Bewerbung des Schließer Jacqnino abgewiesen bat,<lb/>
nach den Worten: &#x201E;Nein, lieber Jacqnino, von einer Heirath zwischen Euch und<lb/>
Marcelline ist keine Rede" u. s. w. Dies Musikstück ist eben so launig und an¬<lb/>
muthig, als charakteristisch, es schließt eine Situation und Stimmung musikalisch<lb/>
ab und hat außerdem den Vorzug, die Partien der Marcelline und des im Fidelio<lb/>
schlecht bedachten Jacqnino zu verbessern. 2) Duett Nro. 10 des Clavieraus-<lb/>
znges zwischen Leonore und Marcelline tritt zu Folge der Einrichtung des Fidelio<lb/>
ein nach Leonoren's großer Arie (Nro. 9 des Fidelio) in der sie sich Muth ein¬<lb/>
spricht, nachdem sie den Pizarro belauscht hat. Unmittelbar nach dieser Arie<lb/>
erscheint Marcelline, und nach einigen gesprochenen Worten folgt dies Duett, in<lb/>
welchem Marcelline ihre Empfindungen über das Glück der projectirten Ehe mit<lb/>
Fidelio ausspricht und Leonore ihre tragische Stimmung zu mastiren sucht. Die<lb/>
reine, süße Unschuld Marcellinen's und der große, verhaltene Schmerz Leonoren's<lb/>
welche in das Geplauder des Mädchens bald eingeht, bald ihren Schmerz über<lb/>
die Täuschung der Kleinen ausdrückt, ist in Musik und selbst im Texte reizend<lb/>
charakterisirt. Nach dem Duett Austritt Rocco's und die Bitte der Beiden, die<lb/>
Gefangenen herauszulassen. Dies Duett ist als Musikstück wunderschön, es ver¬<lb/>
bessert wesentlich die Partie der Marcelline, deren Charakter dadurch eine größere<lb/>
Innigkeit und Wärme erhält, füllt aus seine zarte und anmuthige Weise eine<lb/>
Lücke in der Charakteristik des Verhältnisses zwischen Leonore und Marcelline</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0471] zeugnng und zum Theil nach hartem Kampf mit sich selbst unterdrückt hat. Doch wer unsere Bühnen kennt und weiß, wie schwer und unbequem es im Drang der Tagesgeschäfte und bei dem ewigen Andrängen des Neuen einer Bühnenleitnng wird, an dem Alten, Festen, bereits Gewonnenen zu rütteln, der wird nicht verlangen, daß unser Fidelio dnrch Aufnahme der zahlreichen Schönheiten der älteren Partitur umgestaltet werde, oder gar an seine Stelle die einfache, reine Originalität der ursprünglichen Bearbeitung treten solle. Und sollte Jemand so Etwas verlangen, er würde es sicher nicht durchsehen. Ganz anders dagegen steht die Sache mit zwei Gesangstücken, welche in der ursprünglichen Arbeit Beethoven's ein Schmuck derselben waren, welche der Meister auch bei den Kürzungen der zweiten Bearbeitung noch nicht aufgeben wollte, und die er erst bei der dritten ganz wegließ, wie wir wissen, gegen seine eigene, bessere Ueberzeugung. Diese beiden Gesangstücke dem gegenwärtigen Fidelio wiederzugeben ist sehr leicht und erscheint jetzt, wo wir die Große Beethoven's und die Schönheit der Oper besser zu würdigen wissen, als eine Pflicht gegen den Componisten und das Publicum, welches allerdings in genügendem Grade die Geduld erworben hat, Beethoven's Musik zu ertragen. Diese beiden Musik» stücke sind: 1) ein Terzett Ur. 3 des Clavierauszuges der Leonore: „Ein Mann ist bald genommen" zwischen Rocco, Jacqnino und Marcelline. Es tritt ein in Act. -I. Scene 2, nachdem Rocco die Bewerbung des Schließer Jacqnino abgewiesen bat, nach den Worten: „Nein, lieber Jacqnino, von einer Heirath zwischen Euch und Marcelline ist keine Rede" u. s. w. Dies Musikstück ist eben so launig und an¬ muthig, als charakteristisch, es schließt eine Situation und Stimmung musikalisch ab und hat außerdem den Vorzug, die Partien der Marcelline und des im Fidelio schlecht bedachten Jacqnino zu verbessern. 2) Duett Nro. 10 des Clavieraus- znges zwischen Leonore und Marcelline tritt zu Folge der Einrichtung des Fidelio ein nach Leonoren's großer Arie (Nro. 9 des Fidelio) in der sie sich Muth ein¬ spricht, nachdem sie den Pizarro belauscht hat. Unmittelbar nach dieser Arie erscheint Marcelline, und nach einigen gesprochenen Worten folgt dies Duett, in welchem Marcelline ihre Empfindungen über das Glück der projectirten Ehe mit Fidelio ausspricht und Leonore ihre tragische Stimmung zu mastiren sucht. Die reine, süße Unschuld Marcellinen's und der große, verhaltene Schmerz Leonoren's welche in das Geplauder des Mädchens bald eingeht, bald ihren Schmerz über die Täuschung der Kleinen ausdrückt, ist in Musik und selbst im Texte reizend charakterisirt. Nach dem Duett Austritt Rocco's und die Bitte der Beiden, die Gefangenen herauszulassen. Dies Duett ist als Musikstück wunderschön, es ver¬ bessert wesentlich die Partie der Marcelline, deren Charakter dadurch eine größere Innigkeit und Wärme erhält, füllt aus seine zarte und anmuthige Weise eine Lücke in der Charakteristik des Verhältnisses zwischen Leonore und Marcelline

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/471
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/471>, abgerufen am 24.07.2024.