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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Periode gekommen, in der man überhaupt Nichts "erregen" wollte, und vielleicht am
wenigsten das Nationalgefühl.

In dieser Lage befand sich das Cvmmunalwesen, als das Jahr 18i8 hereinbrach.

Wir halten hier in unsrer Darstellung vorläufig inne, "ut schließen mit einer
allgemeinern Betrachtung. Seit Emanation der alten Städteordnung waren vier
Decennien verflossen. Im Lause dieser Zeit waren -- freilich in schwächerer Weise --
die Comnuinalvcrhältnisse des größten Theiles der Städte und die der beiden westlichen
Provinzen geordnet worden. Hat die Gcmcindcorganisativn inzwischen die von Stein
beabsichtigte Wirkung geäußert? hat sie den Gesichtskreis des Bürgers erweitert, die
Schränken deS bornirten Egoismus durchbrochen, die thätige Wirksamkeit für das Wohl
der Communen gefördert, das Interesse für die Entwickelung des Landes, die sich durch
die Neigung zur Theilnahme "an den Operationen des Staats" documentirt, wirksam
geweckt? Ein Blick aus unsre Erlebnisse in den letzten vier Jahren mag auf diese
Fragen Antwort geben. Es ist ein bemerkenswerthes Resultat, daß die Mehrzahl der
Männer, welche den Werth der Selbstständigkeit und den Werth eines Rechtes zu
schätzen wissen, aus den Wahlen der Städte und der westlichen Provinzen hervor¬
gegangen ist.

Freilich hat dieser "Oppositionsgeist" schon vor 18i8 großen Anstoß erregt und
die leitenden Kreise vor einem weitern Vorgehen auf dieser Bah" in hohem Grade
bedenklich gemacht. Allein die damals erhobenen Vorwürfe reducirten sich im Wesent¬
lichen darauf, daß Stadtverordnetenversammlungen und Landtage sich in ihren Petitionen
um Dinge kümmerten, die als allgemeine Landesangelegenheiten nicht speciell und
unmittelbar die Kommunal- und Prvvinzial-Interessen betrafen. Woher stammten diese
"Ausschreitungen"? Weil man 6 0 Jahre hindurch die Bildung einer Nationalrepräsen-
tation, die der Ort für eine Berathung der allgemeinen Landesangelegenheiten gewesen
wäre, verabsäumt hatte. Das Interesse an den Staatsopcrationcn zu beleben, war
gerade der Zweck Stein'S bei der Gcmcindcorgauisation gewesen; er hatte den Durst
geweckt, entschlossen, ihn durch eine Nationalrepräsentation zu befriedigen. Allein seine
Nachfolger zeigten in vielfach wiederholten Verheißungen dem Dürstenden nnr den
Becher von ferne, und waren sehr ungehalten, als er die Hand darnach ausstreckte.

Jetzt/ wo wir eine allgemeine Volksvertretung besitzen, aber eine einflußlose, rück¬
sichtslos behandelte, wiederholt sich dasselbe Phänomen. Auch einige der diesjährigen
Landtage haben sich um "allgemeine Landesangelegenheiten" gekümmert, und der rheinische
sogar ans eine für die Regierung sehr verdrießliche Art.

Vernunft und Erfahrung lehren, daß man, um zu befriedigende" Zuständen zu
gelangen und den unerquicklichen Reibungen ein Ende zu machen, sich für eine scharfe
Alternative zu entscheiden hat. Entweder will man über freie Bürger herrschen, und
dann räume man ihnen als nothwendige Consequenz einen wirklichen Einfluß auf die
Regierung ein. Oder man will über Knechte herrschen, und dann räume man Alles
fort, wodurch der Durst nach Freiheit und Selbstständigkeit genährt wird. Wer das
Letztere bei dem gegenwärtigen Enlturzustaudc für möglich hält, mag es wagen, hiezu
seinen Rath zu ertheilen. Aber jeder Mittelweg sührt nur zu Kämpfen, in denen die
Kraft deS Staates aufgerieben wird, und zu Zwittcrzuständcn, die früher oder später
doch zusammenbrechen müssen.




Periode gekommen, in der man überhaupt Nichts „erregen" wollte, und vielleicht am
wenigsten das Nationalgefühl.

In dieser Lage befand sich das Cvmmunalwesen, als das Jahr 18i8 hereinbrach.

Wir halten hier in unsrer Darstellung vorläufig inne, »ut schließen mit einer
allgemeinern Betrachtung. Seit Emanation der alten Städteordnung waren vier
Decennien verflossen. Im Lause dieser Zeit waren — freilich in schwächerer Weise —
die Comnuinalvcrhältnisse des größten Theiles der Städte und die der beiden westlichen
Provinzen geordnet worden. Hat die Gcmcindcorganisativn inzwischen die von Stein
beabsichtigte Wirkung geäußert? hat sie den Gesichtskreis des Bürgers erweitert, die
Schränken deS bornirten Egoismus durchbrochen, die thätige Wirksamkeit für das Wohl
der Communen gefördert, das Interesse für die Entwickelung des Landes, die sich durch
die Neigung zur Theilnahme „an den Operationen des Staats" documentirt, wirksam
geweckt? Ein Blick aus unsre Erlebnisse in den letzten vier Jahren mag auf diese
Fragen Antwort geben. Es ist ein bemerkenswerthes Resultat, daß die Mehrzahl der
Männer, welche den Werth der Selbstständigkeit und den Werth eines Rechtes zu
schätzen wissen, aus den Wahlen der Städte und der westlichen Provinzen hervor¬
gegangen ist.

Freilich hat dieser „Oppositionsgeist" schon vor 18i8 großen Anstoß erregt und
die leitenden Kreise vor einem weitern Vorgehen auf dieser Bah» in hohem Grade
bedenklich gemacht. Allein die damals erhobenen Vorwürfe reducirten sich im Wesent¬
lichen darauf, daß Stadtverordnetenversammlungen und Landtage sich in ihren Petitionen
um Dinge kümmerten, die als allgemeine Landesangelegenheiten nicht speciell und
unmittelbar die Kommunal- und Prvvinzial-Interessen betrafen. Woher stammten diese
„Ausschreitungen"? Weil man 6 0 Jahre hindurch die Bildung einer Nationalrepräsen-
tation, die der Ort für eine Berathung der allgemeinen Landesangelegenheiten gewesen
wäre, verabsäumt hatte. Das Interesse an den Staatsopcrationcn zu beleben, war
gerade der Zweck Stein'S bei der Gcmcindcorgauisation gewesen; er hatte den Durst
geweckt, entschlossen, ihn durch eine Nationalrepräsentation zu befriedigen. Allein seine
Nachfolger zeigten in vielfach wiederholten Verheißungen dem Dürstenden nnr den
Becher von ferne, und waren sehr ungehalten, als er die Hand darnach ausstreckte.

Jetzt/ wo wir eine allgemeine Volksvertretung besitzen, aber eine einflußlose, rück¬
sichtslos behandelte, wiederholt sich dasselbe Phänomen. Auch einige der diesjährigen
Landtage haben sich um „allgemeine Landesangelegenheiten" gekümmert, und der rheinische
sogar ans eine für die Regierung sehr verdrießliche Art.

Vernunft und Erfahrung lehren, daß man, um zu befriedigende» Zuständen zu
gelangen und den unerquicklichen Reibungen ein Ende zu machen, sich für eine scharfe
Alternative zu entscheiden hat. Entweder will man über freie Bürger herrschen, und
dann räume man ihnen als nothwendige Consequenz einen wirklichen Einfluß auf die
Regierung ein. Oder man will über Knechte herrschen, und dann räume man Alles
fort, wodurch der Durst nach Freiheit und Selbstständigkeit genährt wird. Wer das
Letztere bei dem gegenwärtigen Enlturzustaudc für möglich hält, mag es wagen, hiezu
seinen Rath zu ertheilen. Aber jeder Mittelweg sührt nur zu Kämpfen, in denen die
Kraft deS Staates aufgerieben wird, und zu Zwittcrzuständcn, die früher oder später
doch zusammenbrechen müssen.




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[0038] Periode gekommen, in der man überhaupt Nichts „erregen" wollte, und vielleicht am wenigsten das Nationalgefühl. In dieser Lage befand sich das Cvmmunalwesen, als das Jahr 18i8 hereinbrach. Wir halten hier in unsrer Darstellung vorläufig inne, »ut schließen mit einer allgemeinern Betrachtung. Seit Emanation der alten Städteordnung waren vier Decennien verflossen. Im Lause dieser Zeit waren — freilich in schwächerer Weise — die Comnuinalvcrhältnisse des größten Theiles der Städte und die der beiden westlichen Provinzen geordnet worden. Hat die Gcmcindcorganisativn inzwischen die von Stein beabsichtigte Wirkung geäußert? hat sie den Gesichtskreis des Bürgers erweitert, die Schränken deS bornirten Egoismus durchbrochen, die thätige Wirksamkeit für das Wohl der Communen gefördert, das Interesse für die Entwickelung des Landes, die sich durch die Neigung zur Theilnahme „an den Operationen des Staats" documentirt, wirksam geweckt? Ein Blick aus unsre Erlebnisse in den letzten vier Jahren mag auf diese Fragen Antwort geben. Es ist ein bemerkenswerthes Resultat, daß die Mehrzahl der Männer, welche den Werth der Selbstständigkeit und den Werth eines Rechtes zu schätzen wissen, aus den Wahlen der Städte und der westlichen Provinzen hervor¬ gegangen ist. Freilich hat dieser „Oppositionsgeist" schon vor 18i8 großen Anstoß erregt und die leitenden Kreise vor einem weitern Vorgehen auf dieser Bah» in hohem Grade bedenklich gemacht. Allein die damals erhobenen Vorwürfe reducirten sich im Wesent¬ lichen darauf, daß Stadtverordnetenversammlungen und Landtage sich in ihren Petitionen um Dinge kümmerten, die als allgemeine Landesangelegenheiten nicht speciell und unmittelbar die Kommunal- und Prvvinzial-Interessen betrafen. Woher stammten diese „Ausschreitungen"? Weil man 6 0 Jahre hindurch die Bildung einer Nationalrepräsen- tation, die der Ort für eine Berathung der allgemeinen Landesangelegenheiten gewesen wäre, verabsäumt hatte. Das Interesse an den Staatsopcrationcn zu beleben, war gerade der Zweck Stein'S bei der Gcmcindcorgauisation gewesen; er hatte den Durst geweckt, entschlossen, ihn durch eine Nationalrepräsentation zu befriedigen. Allein seine Nachfolger zeigten in vielfach wiederholten Verheißungen dem Dürstenden nnr den Becher von ferne, und waren sehr ungehalten, als er die Hand darnach ausstreckte. Jetzt/ wo wir eine allgemeine Volksvertretung besitzen, aber eine einflußlose, rück¬ sichtslos behandelte, wiederholt sich dasselbe Phänomen. Auch einige der diesjährigen Landtage haben sich um „allgemeine Landesangelegenheiten" gekümmert, und der rheinische sogar ans eine für die Regierung sehr verdrießliche Art. Vernunft und Erfahrung lehren, daß man, um zu befriedigende» Zuständen zu gelangen und den unerquicklichen Reibungen ein Ende zu machen, sich für eine scharfe Alternative zu entscheiden hat. Entweder will man über freie Bürger herrschen, und dann räume man ihnen als nothwendige Consequenz einen wirklichen Einfluß auf die Regierung ein. Oder man will über Knechte herrschen, und dann räume man Alles fort, wodurch der Durst nach Freiheit und Selbstständigkeit genährt wird. Wer das Letztere bei dem gegenwärtigen Enlturzustaudc für möglich hält, mag es wagen, hiezu seinen Rath zu ertheilen. Aber jeder Mittelweg sührt nur zu Kämpfen, in denen die Kraft deS Staates aufgerieben wird, und zu Zwittcrzuständcn, die früher oder später doch zusammenbrechen müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/38>, abgerufen am 27.12.2024.