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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Neue englische Romane.

Es liegt uns in der Tauchnitzer Ausgabe wieder eine ganze Reihe neuer
Romane vor, die in England mehr oder minder Anklang gefunden haben, und
deren Verbreitung wir in Deutschland uur bevorworten können, weil sie uicht nur
in Beziehung auf die sittlichen Grundbegriffe, sondern anch ans die gewöhnlichen
Vorstellungen des Lebens uns näher stehe", als die französischen Novellen, die
eine Zeitlang die ausschließliche Nahrung unseres Lcsepublicnms waren. Sie
bewegen sich sämmtlich in der modernen Gesellschaft, und rühren zum größeren
Theil von Frauen her. Ueberhaupt ist es charakteristisch, daß seit beinahe einem
Jahrhundert die weiblichen Schriftsteller in England uicht nur an Znhl, sondern
anch an Werth die der übrige" Nationen bei weitem überragen. In Frankreich
geben die Damen von Geist und Bildung ihre Kräfte meistens in den Leiden¬
schaften des wirtlichen Lebens, oder in der Conversation ans. Die aristokratischen
und puritanischen Formen der englischen Gesellschaft gewähren in dieser Beziehung
einen geringen Spielraum, daher flüchtet sich alles Talent in das Gebiet der
Phantasie.

Der erste Roman, den wir anzuführen haben, ist Billette von Currcr
Bell. Die Schriftstellerin, die sich unter diesem Namen nicht blos in England
bekannt gemacht hat, heißt eigentlich Miß Bronte. Sie hat ihr Jncognito im
vorigen Jahre abgeworfen, als sie die Novellen ihrer beiden früh verstorbenen
Schwestern herausgab. Ihre beiden frühern Romane sind bekanntlich "Jane Eyre"
(1848) und "Shirley" (18Ü0). Die allgemeine Tendenz ihrer Schriften spricht
sich schon in der Widmung des zuletzt genannten Romans an Thackeray ans,
den sie einen Propheten der Zukunft nennt. Unter allen möglichen Bezeichnungen
dürfte wol die eines Propheten für diesen Dichter die am wenigsten angemessene
sein. Sein Scepticismus zerreißt die Empfindungen und Handlungen der Menschen
mit einer so unerbittlichen Virtuosität, daß alles Ideal zu Grunde geht, uicht
mit dem Leichtsinn eines Voltaire, der mit Behagen die Tollheiten der Welt genießt,


Grenzboten, I. t6
Neue englische Romane.

Es liegt uns in der Tauchnitzer Ausgabe wieder eine ganze Reihe neuer
Romane vor, die in England mehr oder minder Anklang gefunden haben, und
deren Verbreitung wir in Deutschland uur bevorworten können, weil sie uicht nur
in Beziehung auf die sittlichen Grundbegriffe, sondern anch ans die gewöhnlichen
Vorstellungen des Lebens uns näher stehe», als die französischen Novellen, die
eine Zeitlang die ausschließliche Nahrung unseres Lcsepublicnms waren. Sie
bewegen sich sämmtlich in der modernen Gesellschaft, und rühren zum größeren
Theil von Frauen her. Ueberhaupt ist es charakteristisch, daß seit beinahe einem
Jahrhundert die weiblichen Schriftsteller in England uicht nur an Znhl, sondern
anch an Werth die der übrige» Nationen bei weitem überragen. In Frankreich
geben die Damen von Geist und Bildung ihre Kräfte meistens in den Leiden¬
schaften des wirtlichen Lebens, oder in der Conversation ans. Die aristokratischen
und puritanischen Formen der englischen Gesellschaft gewähren in dieser Beziehung
einen geringen Spielraum, daher flüchtet sich alles Talent in das Gebiet der
Phantasie.

Der erste Roman, den wir anzuführen haben, ist Billette von Currcr
Bell. Die Schriftstellerin, die sich unter diesem Namen nicht blos in England
bekannt gemacht hat, heißt eigentlich Miß Bronte. Sie hat ihr Jncognito im
vorigen Jahre abgeworfen, als sie die Novellen ihrer beiden früh verstorbenen
Schwestern herausgab. Ihre beiden frühern Romane sind bekanntlich „Jane Eyre"
(1848) und „Shirley" (18Ü0). Die allgemeine Tendenz ihrer Schriften spricht
sich schon in der Widmung des zuletzt genannten Romans an Thackeray ans,
den sie einen Propheten der Zukunft nennt. Unter allen möglichen Bezeichnungen
dürfte wol die eines Propheten für diesen Dichter die am wenigsten angemessene
sein. Sein Scepticismus zerreißt die Empfindungen und Handlungen der Menschen
mit einer so unerbittlichen Virtuosität, daß alles Ideal zu Grunde geht, uicht
mit dem Leichtsinn eines Voltaire, der mit Behagen die Tollheiten der Welt genießt,


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[0369] Neue englische Romane. Es liegt uns in der Tauchnitzer Ausgabe wieder eine ganze Reihe neuer Romane vor, die in England mehr oder minder Anklang gefunden haben, und deren Verbreitung wir in Deutschland uur bevorworten können, weil sie uicht nur in Beziehung auf die sittlichen Grundbegriffe, sondern anch ans die gewöhnlichen Vorstellungen des Lebens uns näher stehe», als die französischen Novellen, die eine Zeitlang die ausschließliche Nahrung unseres Lcsepublicnms waren. Sie bewegen sich sämmtlich in der modernen Gesellschaft, und rühren zum größeren Theil von Frauen her. Ueberhaupt ist es charakteristisch, daß seit beinahe einem Jahrhundert die weiblichen Schriftsteller in England uicht nur an Znhl, sondern anch an Werth die der übrige» Nationen bei weitem überragen. In Frankreich geben die Damen von Geist und Bildung ihre Kräfte meistens in den Leiden¬ schaften des wirtlichen Lebens, oder in der Conversation ans. Die aristokratischen und puritanischen Formen der englischen Gesellschaft gewähren in dieser Beziehung einen geringen Spielraum, daher flüchtet sich alles Talent in das Gebiet der Phantasie. Der erste Roman, den wir anzuführen haben, ist Billette von Currcr Bell. Die Schriftstellerin, die sich unter diesem Namen nicht blos in England bekannt gemacht hat, heißt eigentlich Miß Bronte. Sie hat ihr Jncognito im vorigen Jahre abgeworfen, als sie die Novellen ihrer beiden früh verstorbenen Schwestern herausgab. Ihre beiden frühern Romane sind bekanntlich „Jane Eyre" (1848) und „Shirley" (18Ü0). Die allgemeine Tendenz ihrer Schriften spricht sich schon in der Widmung des zuletzt genannten Romans an Thackeray ans, den sie einen Propheten der Zukunft nennt. Unter allen möglichen Bezeichnungen dürfte wol die eines Propheten für diesen Dichter die am wenigsten angemessene sein. Sein Scepticismus zerreißt die Empfindungen und Handlungen der Menschen mit einer so unerbittlichen Virtuosität, daß alles Ideal zu Grunde geht, uicht mit dem Leichtsinn eines Voltaire, der mit Behagen die Tollheiten der Welt genießt, Grenzboten, I. t6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/369>, abgerufen am 24.07.2024.