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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Ein älterer Herr kam mir entgegen und hieß mich willkommen, ohne mich
einer Empfehlung oder meinem Namen zu fragen. An diesem Orte entledigt
man sich aller englischen Formalitäten. "Wenn es Ihnen gefällt, so gehen Sie
nur überall umher," sagte er, "aber hüten Sie Ihre Taschen; an uns vergreifen
sie sich nicht, allein für einen Fremden kann man nicht einstehen." Später
fragte er mich, ob ich Lust hätte, sie singen zu boren; denn, fügte er hinzu, wir
betrachten den Gesang als ein sehr wirksames Besserungsmittel. Ans ein, mit
einer Pfeife gegebenes Zeichen verstummte Alles; auf einen Wink mit der Hand
standen Alle wie Einer auf. Er hub einen Psalm an, der angenehm anzuhören
war, wozu der Umstand nicht wenig beitrug, daß die Psalm-Melodien in Eng¬
land viel hübscher sind wie die unsrigen und in einem viel lebhafteren Tempo
gesungen werden. Nach beendeten Psalm fing das Bibellesen an. An dem
einen Ende des Saals befand sich, einige Stufen erhöht, hinter einem Vorhänge
eine andere Abtheilung: nämlich erwachsene Mädchen und die Mütter der kleinen
Kinder. Dort hielten diese ihre Sonntagsschule und ein sehr alter, priesterlich
aussehender Mann las mit ihnen die Bibel. Indessen' hier erregte der Fremde
eine Störung, sei es nun ans dem Grunde, daß die Frauenzimmer im Allge¬
meinen keinen Associationsgeist besitzen, nicht begreifen können, daß man sich für
ein Ganzes interessieren kann, ohne das Individuum zu beachten, oder weil sie
sich überlmnpt langweilten.

Meine Anwesenheit daselbst traf mit dem dritten Sabbath im Monat zusam¬
men, an welchem sogenannte Betvereine prl^er-möetmxs gehalten werden, welche
als ein Hilfsmittel für das Gedeihen der Schule eingeführt sind, um im Verein
Gottes Beistand für dieselbe zu erflehen. Die kleinen Kinder wurden entfernt,
die Frauenzimmer stiegen gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen von der
Galerie hinab und stellten sich in Reihen am Fuße der Treppe auf; die an¬
wesenden Damen neben dieselben. Nachdem ein Psalm gesungen,sollte gebetet weiden
und zu dem Zwecke fielen alle diese dichten Reihen, mehr als 500 Menschen, auf die
Knie nieder. Dies verursachte einen unbeschreiblichen Eindruck. Man sollte
glauben, sie begrüßten einen, sich am Eingang zeigenden Gott. Der Wahrheit
gemäß bestand daS Feierliche und Jmpvuireude doch nnr hauptsächlich in der
Bewegung der Masse; unter den Einzelnen waren gewiß Viele von Andacht er¬
griffen, aber die Meisten waren sichtlich müde und zerstreut.

Daß die materiellen Wohlthaten deö Wirkens Centrum sind, wird dem
Leser nicht unbemerkt geblieben sein. Einerseits wirkt die Bekleidung-Gesellschaft,
indem sie die Eltern veranlaßt, ihre Kinder zur Schule zu schicken; den Mütter"
wird mitunter auch ein Kleidungsstück, eine Mütze oder ein Band verabreicht,
und dadurch veranlaßt man sie anch, in der Schule zu erscheinen und an den
Betstunden Theil zu nehmen, nicht selten werden dieselben sogar von den Damen
zu Theegesellschaften, t,Lg,-ins<ztmxs, eingeladen. Anderseits wirkt das Schlaf-


Ein älterer Herr kam mir entgegen und hieß mich willkommen, ohne mich
einer Empfehlung oder meinem Namen zu fragen. An diesem Orte entledigt
man sich aller englischen Formalitäten. „Wenn es Ihnen gefällt, so gehen Sie
nur überall umher," sagte er, „aber hüten Sie Ihre Taschen; an uns vergreifen
sie sich nicht, allein für einen Fremden kann man nicht einstehen." Später
fragte er mich, ob ich Lust hätte, sie singen zu boren; denn, fügte er hinzu, wir
betrachten den Gesang als ein sehr wirksames Besserungsmittel. Ans ein, mit
einer Pfeife gegebenes Zeichen verstummte Alles; auf einen Wink mit der Hand
standen Alle wie Einer auf. Er hub einen Psalm an, der angenehm anzuhören
war, wozu der Umstand nicht wenig beitrug, daß die Psalm-Melodien in Eng¬
land viel hübscher sind wie die unsrigen und in einem viel lebhafteren Tempo
gesungen werden. Nach beendeten Psalm fing das Bibellesen an. An dem
einen Ende des Saals befand sich, einige Stufen erhöht, hinter einem Vorhänge
eine andere Abtheilung: nämlich erwachsene Mädchen und die Mütter der kleinen
Kinder. Dort hielten diese ihre Sonntagsschule und ein sehr alter, priesterlich
aussehender Mann las mit ihnen die Bibel. Indessen' hier erregte der Fremde
eine Störung, sei es nun ans dem Grunde, daß die Frauenzimmer im Allge¬
meinen keinen Associationsgeist besitzen, nicht begreifen können, daß man sich für
ein Ganzes interessieren kann, ohne das Individuum zu beachten, oder weil sie
sich überlmnpt langweilten.

Meine Anwesenheit daselbst traf mit dem dritten Sabbath im Monat zusam¬
men, an welchem sogenannte Betvereine prl^er-möetmxs gehalten werden, welche
als ein Hilfsmittel für das Gedeihen der Schule eingeführt sind, um im Verein
Gottes Beistand für dieselbe zu erflehen. Die kleinen Kinder wurden entfernt,
die Frauenzimmer stiegen gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen von der
Galerie hinab und stellten sich in Reihen am Fuße der Treppe auf; die an¬
wesenden Damen neben dieselben. Nachdem ein Psalm gesungen,sollte gebetet weiden
und zu dem Zwecke fielen alle diese dichten Reihen, mehr als 500 Menschen, auf die
Knie nieder. Dies verursachte einen unbeschreiblichen Eindruck. Man sollte
glauben, sie begrüßten einen, sich am Eingang zeigenden Gott. Der Wahrheit
gemäß bestand daS Feierliche und Jmpvuireude doch nnr hauptsächlich in der
Bewegung der Masse; unter den Einzelnen waren gewiß Viele von Andacht er¬
griffen, aber die Meisten waren sichtlich müde und zerstreut.

Daß die materiellen Wohlthaten deö Wirkens Centrum sind, wird dem
Leser nicht unbemerkt geblieben sein. Einerseits wirkt die Bekleidung-Gesellschaft,
indem sie die Eltern veranlaßt, ihre Kinder zur Schule zu schicken; den Mütter»
wird mitunter auch ein Kleidungsstück, eine Mütze oder ein Band verabreicht,
und dadurch veranlaßt man sie anch, in der Schule zu erscheinen und an den
Betstunden Theil zu nehmen, nicht selten werden dieselben sogar von den Damen
zu Theegesellschaften, t,Lg,-ins<ztmxs, eingeladen. Anderseits wirkt das Schlaf-


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[0024] Ein älterer Herr kam mir entgegen und hieß mich willkommen, ohne mich einer Empfehlung oder meinem Namen zu fragen. An diesem Orte entledigt man sich aller englischen Formalitäten. „Wenn es Ihnen gefällt, so gehen Sie nur überall umher," sagte er, „aber hüten Sie Ihre Taschen; an uns vergreifen sie sich nicht, allein für einen Fremden kann man nicht einstehen." Später fragte er mich, ob ich Lust hätte, sie singen zu boren; denn, fügte er hinzu, wir betrachten den Gesang als ein sehr wirksames Besserungsmittel. Ans ein, mit einer Pfeife gegebenes Zeichen verstummte Alles; auf einen Wink mit der Hand standen Alle wie Einer auf. Er hub einen Psalm an, der angenehm anzuhören war, wozu der Umstand nicht wenig beitrug, daß die Psalm-Melodien in Eng¬ land viel hübscher sind wie die unsrigen und in einem viel lebhafteren Tempo gesungen werden. Nach beendeten Psalm fing das Bibellesen an. An dem einen Ende des Saals befand sich, einige Stufen erhöht, hinter einem Vorhänge eine andere Abtheilung: nämlich erwachsene Mädchen und die Mütter der kleinen Kinder. Dort hielten diese ihre Sonntagsschule und ein sehr alter, priesterlich aussehender Mann las mit ihnen die Bibel. Indessen' hier erregte der Fremde eine Störung, sei es nun ans dem Grunde, daß die Frauenzimmer im Allge¬ meinen keinen Associationsgeist besitzen, nicht begreifen können, daß man sich für ein Ganzes interessieren kann, ohne das Individuum zu beachten, oder weil sie sich überlmnpt langweilten. Meine Anwesenheit daselbst traf mit dem dritten Sabbath im Monat zusam¬ men, an welchem sogenannte Betvereine prl^er-möetmxs gehalten werden, welche als ein Hilfsmittel für das Gedeihen der Schule eingeführt sind, um im Verein Gottes Beistand für dieselbe zu erflehen. Die kleinen Kinder wurden entfernt, die Frauenzimmer stiegen gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen von der Galerie hinab und stellten sich in Reihen am Fuße der Treppe auf; die an¬ wesenden Damen neben dieselben. Nachdem ein Psalm gesungen,sollte gebetet weiden und zu dem Zwecke fielen alle diese dichten Reihen, mehr als 500 Menschen, auf die Knie nieder. Dies verursachte einen unbeschreiblichen Eindruck. Man sollte glauben, sie begrüßten einen, sich am Eingang zeigenden Gott. Der Wahrheit gemäß bestand daS Feierliche und Jmpvuireude doch nnr hauptsächlich in der Bewegung der Masse; unter den Einzelnen waren gewiß Viele von Andacht er¬ griffen, aber die Meisten waren sichtlich müde und zerstreut. Daß die materiellen Wohlthaten deö Wirkens Centrum sind, wird dem Leser nicht unbemerkt geblieben sein. Einerseits wirkt die Bekleidung-Gesellschaft, indem sie die Eltern veranlaßt, ihre Kinder zur Schule zu schicken; den Mütter» wird mitunter auch ein Kleidungsstück, eine Mütze oder ein Band verabreicht, und dadurch veranlaßt man sie anch, in der Schule zu erscheinen und an den Betstunden Theil zu nehmen, nicht selten werden dieselben sogar von den Damen zu Theegesellschaften, t,Lg,-ins<ztmxs, eingeladen. Anderseits wirkt das Schlaf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/24>, abgerufen am 24.07.2024.